Flucht im Kino: Und doch noch ein Anflug von Zuversicht
Das passiert hier, bei uns: «Green Border» von Agnieszka Holland führt gnadenlos die europäische Zivilisationslüge vor Augen und steht damit auch in starkem Kontrast zur apolitischen Heldenreise eines Films wie «Io Capitano».
Die Route über Belarus sei ein Segen, sagt eine syrische Mutter am Anfang von «Green Border», als sie im Flugzeug nach Minsk sitzt. Niemals hätte sie mit den Kindern den Weg übers Mittelmeer nach Europa genommen. Die fatale Ironie dieser Bemerkung kann die Frau (gespielt von Dalia Naous) da noch nicht erahnen.
Bald darauf, an der Grenze zu Polen, sieht sie sich mit ihrer Familie der brutalen Realität der Pushbacks ausgesetzt. Wer aufgegriffen wird, wird umgehend zurückgeschafft, wie lebendiges Entsorgungsgut, und dann geht das unwürdige Drama von vorne los. Der belarusische Grenzschutz regiert mit blanker Niedertracht, aber auch auf polnischer Seite drillt ein Kommandant seinen Trupp auf Dehumanisierung: Die Geflüchteten da draussen in den Wäldern, das seien keine Menschen, sondern lebende Geschosse – politische Munition von Wladimir Putin und Aljaksandr Lukaschenka.
Eine schreiende Anklage
«Green Border» von Agnieszka Holland ist ein einziges Mahnmal, eine schreiende Anklage. So gnadenlos hat noch kein Spielfilm die sogenannte Flüchtlingskrise als europäische Zivilisationslüge vor Augen geführt. Am Filmfestival in Venedig wurde die Regisseurin dafür mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, in Polen wurde sie aufs Übelste angefeindet (siehe WOZ Nr. 39/23). Die damals noch amtierende rechtsnationale Regierung verglich den Film mit Nazipropaganda, Staatspräsident Andrzej Duda bemühte dazu eine Parole aus der Zeit der Besetzung, als in polnischen Kinos deutsche Propagandafilme liefen: «Nur Schweine sitzen im Kino!»
Dabei macht Agnieszka Holland gleich zu Beginn unmissverständlich klar, dass das, was ihr Film zeigt, keine nationale Angelegenheit ist. Grüne Wälder von oben, bevor alle Farbe aus dem Bild entweicht, dann steht da: «Oktober 2021». Und als Schauplatz gerade nicht «Belarus» oder «Polen», sondern schlicht: «Europa». Das alles passiert hier, bei uns.
«Green Border» zeigt ungeheuer eindringlich, was das europäische Migrationsregime an den EU-Aussengrenzen ganz konkret bedeutet. Vor allem im ersten Teil ist es fast nicht auszuhalten, wie kompromisslos die 75-jährige Regisseurin das inszeniert. Dann erweitert der Film die Perspektive: Er führt einen jungen polnischen Grenzwächter (Tomasz Wlosok) ein, später eine Gruppe von Aktivist:innen und schliesslich eine Psychologin (Maja Ostaszewska), die diesen ihr Haus am Wald als Basislager anbietet. Mit deren zupackendem Engagement kommt ein Anflug von Zuversicht in das Drama, dafür verliert der Film das Schicksal der Geflüchteten zeitweise aus den Augen.
Kitsch in der Wüste
Letzteres kann man dem italienischen Regisseur Matteo Garrone nicht vorwerfen. Er handelt sich ganz andere Probleme ein, wenn er in seinem Migrationsdrama «Io Capitano» zwei Jugendliche aus dem Senegal auf ihrem lebensgefährlichen Weg nach Europa zeigt: durch die Wüste nach Libyen und zuletzt übers Mittelmeer. Wobei man an «Io Capitano» eben zeigen kann, dass jede ethische Haltung in der Kunst auch an ihren ästhetischen Entscheidungen zu messen ist.
Garrone betont gerne, dass er mit seinem Film die eurozentrische Perspektive habe umdrehen wollen: Migration einmal nicht aus europäischer Warte erzählt, sondern quasi im Gegenschuss, mit den Augen dieser beiden Jungs, die sich nach Europa aufmachen, um dort ihre Träume zu verwirklichen, obwohl ihnen wiederholt dringend davon abgeraten wird. Das ist als Vorhaben so weit ehrenwert – nur dass Garrone besagten Blickwinkel schon in der Wüste sabotiert, weil er auf visuelle Gimmicks nicht verzichten mag: mit spektakulären Luftbildern wie fürs Reisebüro und schierem Kitsch, wenn sich vor dunkelblauem Abendhimmel die Silhouetten einer menschlichen Karawane auf einer Düne abzeichnen.
Schwerer wiegt, dass «Io Capitano» der Dramaturgie einer Heldenreise folgt, von einer schweren Prüfung der Hauptfigur zur nächsten. Auch wenn Seydou (Seydou Sarr) dabei unmenschliche Qualen durchmacht: Migration wird so entpolitisiert, wird zum Mythos, zur Abenteuergeschichte. Es ist nicht überliefert, was Matteo Salvini, der stellvertretende Ministerpräsident im Kabinett von Giorgia Meloni, davon hielt, als er die Weltpremiere von «Io Capitano» in Venedig besuchte, wo der Film gleich zwei Preise holte. Aber jenseits seiner humanistischen Grundhaltung ist Garrones Umgang mit dem Thema derart apolitisch, dass das sogar einem rechten Hardliner wie Salvini nicht aufstossen dürfte – auch wenn die Regierung Meloni dann doch auffallend still blieb, als «Io Capitano» für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde.
Seinen stärksten Moment hat «Io Capitano» im Schlussbild, als Seydou nochmals über sich hinausgewachsen ist, weil er als minderjähriger Kapitän einen überfüllten Flüchtlingskahn bis vor die Küste von Sizilien geführt hat. Da blickt er zum Helikopter hoch, der ihm den Wind ins Gesicht bläst, dazu Rotorenlärm wie von einem Maschinengewehr. Garrone lässt das Bild lange stehen und findet so zur Ambivalenz, die der Film zuvor vermissen liess: Und jetzt? Seydou hat alle Gefahren und alle Qualen seiner Reise überlebt, aber eine Erlösung ist das nicht, und auch der rettende Hubschrauber bleibt einfach in der Luft stehen.
Der falsche Film in Brüssel
Auch Agnieszka Holland öffnet im Epilog von «Green Border» das Thema nochmals, statt etwas abzuschliessen, wofür es keinen Abschluss geben kann. Diesmal sind Zeit und Ort, die eingeblendet werden, klar markiert: die polnisch-ukrainische Grenze am 26. Februar 2022. Und diesmal geht der Grenzschutz auffallend behutsam mit den Geflüchteten um, die jetzt kommen. Sie kommen aus der benachbarten Ukraine, nicht aus Syrien oder Afghanistan.
Und was erwartet sie, wenn sie ihre beschwerliche Flucht hinter sich haben, die Figuren aus Spielfilmen wie «Green Border» oder «Io Capitano»? Wenn sie angekommen sind, aber (noch) nicht aufgenommen? Wie es in der realen Welt weitergeht, in den Transitzonen zwischen Bürokratie und Asylheimen, das kann man in zwei neuen Dokumentarfilmen aus der Schweiz sehen: «Die Anhörung» von Lisa Gerig und «Gefangene des Schicksals» von Mehdi Sahebi. Beide Filme knüpfen dort an, wo die Fiktion von «Green Border» oder auch «Io Capitano» endet.
Übrigens: «Io Capitano» wurde im November 2023 auf Anregung von italienischen Abgeordneten im EU-Parlament in Brüssel gezeigt, der Bildschirm verschwindend klein im grossen Saal. Das Branchenblatt «The Hollywood Reporter» berichtete von stehenden Ovationen, Regisseur Garrone war auch vor Ort und sprach anschliessend aus, was man seinem Film ohnehin ansieht: «Politische Debatten interessieren mich nicht.» Deutlicher wurden seine Koautoren Amara Fofana und Mamadou Kouassi, die ihre Erfahrungen ins Drehbuch eingebracht hatten. Der Weg nach Europa sei mit unermesslichem Leid verbunden, sagten sie in einem Statement. Deshalb brauche es sichere Passagen – und keine Zahlungen mehr an Länder wie Libyen und Tunesien, die die Menschenrechte mit Füssen treten würden.
Es war eine schöne Geste, dieses humanistische Flüchtlingsdrama im EU-Parlament zu zeigen. Aber es war der falsche Film in Brüssel. Darauf, dass auch «Green Border» dort gezeigt wird, muss man wohl noch länger warten.
«Green Border» startet am 22. Februar im Kino. «Die Anhörung» läuft bereits im Kino, «Io Capitano» nur noch vereinzelt. «Gefangene des Schicksals» startet am 14. März.