Festung Europa: Viel Geld, aber keine Lösung
Vor zehn Jahren gingen in der spanischen Exklave Ceuta Grenzschützer gegen Geflüchtete vor, mit tödlichen Folgen. Seither hat sich die Gewalt von der EU-Aussengrenze ins angrenzende Marokko hinein verschoben.
«Hier sterben viele Menschen» oder «Hoch mit den Menschenrechten, runter mit den Grenzen», rufen Demonstrant:innen auf der Küstenstrasse. Ein paar Hundert Menschen haben sich an diesem Samstag im Februar versammelt, um an den tragischen Tod von mindestens vierzehn Geflüchteten in Ceuta vor zehn Jahren zu erinnern. Spanische Grenzbeamte hatten am 6. Februar 2014 mit Tränengas und Gummigeschossen versucht, eine Gruppe von etwa 200 Personen davon abzuhalten, von der marokkanischen Küste in die spanische Exklave auf dem afrikanischen Kontinent zu schwimmen. Bis heute blieben rechtliche Konsequenzen für die Polizist:innen aus.
Das wird auch zehn Jahre später lautstark kritisiert: «Verdad, justicia y reparación» (Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung) steht auf einem meterlangen Demobanner. Für diesen Tag sind Aktivist:innen aus ganz Spanien angereist. «Ich bin aus Barcelona hergekommen, um Gerechtigkeit für die Toten, für alle Toten an der südeuropäischen Grenze zu fordern», sagt Viviane Ogou. Am Tarajal-Strand in Ceuta werden Kerzen angezündet und Schilder mit den Namen der Verstorbenen hochgehalten. Unter den Demonstrierenden befinden sich auch Menschen, die den gefährlichen Grenzübertritt selbst noch nicht lange hinter sich haben. «Mir ist es wichtig, hier meinen Schmerz und meine Trauer um unsere verstorbenen Brüder öffentlich kundzutun», sagt Oumar Coulibaly. Er kommt aus Mali und ist letzten August in der Exklave angekommen.
In der Endlosschleife
Genau wie Melilla ist auch Ceuta von Marokko umgeben. Somit befindet sich um die beiden spanischen Städte in Nordafrika jeweils eine EU-Aussengrenze. Ein dreifacher Grenzzaun schottet die kleine Landzunge Ceuta von Marokko ab. Das Meer um die Exklave wirkt an vielen Tagen zwar ruhig, doch unter der Wasseroberfläche lauern gefährliche Strömungen.
Am Tag nach dem Gedenken für die Toten von Tarajal ist wieder langweiliger Alltag in der Geflüchtetenunterkunft eingekehrt. Das Camp liegt auf einem kleinen Hügel, umgeben von Bäumen, etwa eine Stunde zu Fuss vom Zentrum der Kleinstadt entfernt. «Ich bin hierhergekommen, weil ich studieren möchte», erklärt Coulibaly. Er möchte etwas erreichen im Leben – und weiter nach Europa. Hier in Ceuta muss er aber erst einmal auf seinen Asylentscheid warten. In seinem Heimatland Mali herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Oumar Coulibalys Mutter, sein Bruder und weitere Familienangehörige wurden getötet. Er konnte flüchten, aber die schrecklichen Bilder kommen immer wieder hoch. Seine Flucht in die spanische Exklave war zusätzlich belastend.
«Wenn du genug Geld und ein Visum hast, dann kannst du von Mali aus irgendwohin fliegen. Wenn du kein Geld hast, bleibt dir nichts anderes übrig, als jenen Weg einzuschlagen, den ich genommen habe», sagt Coulibaly. Er sei von Mali nach Algerien und dann weiter nach Marokko gereist. Etwa drei Jahre habe diese Reise gedauert. Er erzählt von Pushbacks innerhalb Marokkos und Algeriens. «Die Polizei greift einen auf und bringt einen zurück in eine südlichere Region. Dort muss man wieder genug Geld verdienen, um erneut zurück zur Grenze zu fahren. Das Ganze wiederholt sich sehr oft.» Das marokkanische Militär oder auch die Polizei hätten ihn und seine Weggefährten bei diesen Rückführungen manchmal auch geschlagen oder ihnen Geld weggenommen.
«In den letzten zwei, drei Jahren ist die Zahl der Menschen, die versuchen, über den Grenzzaun nach Ceuta zu gelangen, drastisch zurückgegangen», sagt Gonzalo Testa. Er ist stellvertretender Chefredaktor der Lokalzeitung «El Faro», lebt und arbeitet seit etwa zwanzig Jahren in der Exklave und beschäftigt sich seither mit dem Thema Migration. Kamen in den Jahren 2016 und 2017 jeweils über 3200 Personen in der Geflüchtetenunterkunft von Ceuta an, sinken die Zahlen seither stark. Letztes Jahr waren es gemäss offiziellen Angaben nur noch 1093 Personen. Der mit Abstand grösste Teil kommt aus den subsaharischen Staaten. «Neben der Coronapandemie liegt der Grund für den Rückgang vor allem daran, dass Marokko nicht mehr zulässt, dass sich grosse Gruppen von Flüchtenden in der Nähe von Ceuta aufhalten», sagt Testa. Die grösste Gruppe habe es im Juli 2018 über den Zaun geschafft, das seien zwischen 700 und 800 Personen gewesen, so der Journalist. «Das hatte geopolitische Konsequenzen: Spanien forderte Marokko zu einer engeren Zusammenarbeit auf.» Inzwischen würden es, wenn überhaupt, nur kleine Gruppen von zwei, drei oder vielleicht auch mal fünf Personen gemeinsam über den hohen Grenzzaun schaffen.
Gefährliche Route übers Meer
Zum Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen gegen Flüchtende durch Grenzbeamte wie vor zehn Jahren in Tarajal sei es seither nicht mehr gekommen, sagt Testa. «Statt Gewaltanwendung innerhalb der eigenen Grenzen wird die Aufgabe der Migrationsregulierung an den Drittstaat Marokko ausgelagert.» Mehr als eine halbe Milliarde Euro hat Marokko seit 2014 bereits für das «Migrationsmanagement» erhalten, und im EU-Budget von 2021 bis 2027 sind weitere 500 Millionen Euro dafür veranschlagt.
Aber das Verhältnis zum Königreich Marokko ist nicht immer einfach. 2021 gab es Unstimmigkeiten zwischen der spanischen Regierung und dem marokkanischen König. Daraufhin soll Marokko die Grenzen zu Ceuta für 48 Stunden unkontrolliert geöffnet haben. Innert kürzester Zeit gelangten 10 000 Menschen, vor allem Marokkaner:innen, in die Kleinstadt. Darauf war diese nicht vorbereitet. Die meisten der frisch Angekommenen seien nach kurzer Zeit wieder nach Marokko zurückgekehrt, meint der Lokaljournalist Gonzalo Testa. Aber die Ankunft von so vielen habe Ängste in der Gesellschaft geschürt und der ultrarechten Partei Vox in die Karten gespielt. Inzwischen scheint das Verhältnis zwischen dem marokkanischen Staatsoberhaupt und der spanischen Regierung wieder besser zu sein. Der mit Hunderten Millionen von EU-Steuergeldern finanzierte Deal, dass Marokko die Flüchtenden von der EU-Aussengrenze fernhält, scheint wirksam.
Etwa fünfzig Kilometer von Ceuta entfernt liegt die marokkanische Stadt Tanger. Hier gibt es richtig Arme und richtig Reiche. Frank Bouba* gehört zu den Ärmsten. Vom Stadtrand führt ein kleiner Pfad in einen Wald. Dort lebe er seit vier Jahren, erzählt der Siebzehnjährige. Vor fünf Jahren habe er sein Zuhause in Kamerun wegen der anhaltenden Konflikte verlassen. Mit zwölf Jahren. Seither hat der Jugendliche kein Dach mehr über dem Kopf. Eigentlich möchte er nach Europa, nach Ceuta oder mit dem Boot über das Meer nach Südspanien. Aber er kommt nicht weiter. «Die marokkanische Polizei ist jeden Tag hinter uns her. Wir wissen nicht, warum», erzählt Bouba verzweifelt. Jedes Mal, wenn er in die Stadt müsse, um Essen zu besorgen, gucke er sich ständig um. Immer in der Angst, aufgegriffen zu werden. «Wenn uns die Polizei aufgreift, dann bringt sie uns zurück in die marokkanischen Grossstädte Casablanca oder Marrakesch», sagt Bouba.
Zurück im spanischen Ceuta: Germinal Castillo fährt mit einem Rettungswagen in Richtung Grenzübergang. Hier, direkt am Strand von Tarajal, befindet sich ein kleines Café, in dem Grenzschutzbeamte, Polizisten und Rettungssanitäterinnen des Roten Kreuzes ein und aus gehen. «Mein Job ist eine humanitäre Verpflichtung», sagt Rettungssanitäter Castillo, der gemeinsam mit den Grenzschutzbeamte im Einsatz steht. Viele Flüchtende würden gerade bei stürmischem Wetter mit hohem Wellengang die Überfahrt antreten oder sogar schwimmen. Die Chance, von den marokkanischen Grenzschutzbeauftragten entdeckt zu werden, sei dann geringer. Aber es ist auch viel gefährlicher. Sofern es die Umstände zuliessen, versuche man, das Schlimmste zu verhindern.
«Die spanischen Grenzschutzbehörden fahren auch bei Sturm raus, um Menschen in Not zu retten, aber es ist schwierig, eine schwimmende Person in einem schwarzen Neoprenanzug zu entdecken», sagt Germinal Castillo. Etwa zwanzig Tote melden die spanischen Behörden pro Jahr an der Grenze zwischen Marokko und Ceuta. Wie viele ertrinken, ohne dass ihre Leichen gefunden werden, ist unklar.
Im Regen über den Zaun
Auch auf dem Landweg versuchen Flüchtende, in die EU zu gelangen. Germinal Castillo biegt mit dem Rettungswagen in eine kleine Strasse in Richtung Landesinneres ein. Im Tal unten erstreckt sich der sechs bis zehn Meter hohe doppelte spanische Grenzzaun. Auf dem Kamm einer Hügelkette schlängelt sich der marokkanische Zaun. Soldaten in Tarnuniform verkehren mit Militärfahrzeugen im Grenzstreifen. Zahlreiche Wachposten säumen den Zaun auf beiden Seiten.
«Der Zaun hat Kontaktsensoren, deshalb berühren die Flüchtenden den Zaun meist an verschiedenen Stellen, um so Störungssignale zu provozieren», erklärt Castillo. Sie versuchen, mithilfe von Haken über den Zaun zu klettern. «Zum Glück wurde hier der Stacheldraht entfernt. Das war eine Konstruktion mit einer Art Messerklingen», fährt der Rettungssanitäter fort. Wenn man sich in einem solchen Zaun verfange, könne man sich tiefe Schnittwunden einhandeln. Ausserdem komme man nicht mehr so leicht heraus. Oft musste die Feuerwehr kommen, um die Menschen zu retten. Spanien hat dieses gefährliche Element mittlerweile vom Zaun entfernt. Dafür prangt es inzwischen auf dem marokkanischen.
Oumar Coulibaly aus Mali hat es über diesen Zaun geschafft. «Ich habe neun oder zehn Anläufe gebraucht», erzählt er. Mehrmals wurde er auf der marokkanischen Seite aufgegriffen und ein ganzes Stück von der Grenze weggebracht. Wieder genug Geld verdienen. Wieder zur Grenze. Bis der eine Morgen im August 2023 kam: «Wir sind an der Grenze angekommen, und es hat zu regnen angefangen», erzählt Coulibaly. Das habe das Klettern erschwert. Er und sein Freund verloren sämtliche Wertsachen, darunter auch ihre Handys – ein äusserst wichtiger Gegenstand auf der Flucht. «Ich meinte zu meinem Freund, dass wir nicht umkehren können. Entweder wir schaffen es, oder es ist vorbei», erinnert sich Coulibaly. Und dieses Mal sollten sie es schaffen.
Bouba hatte bisher weniger Glück. «Sie haben die Grenzen blockiert, und sie lassen uns nicht rüber», klagt der Jugendliche im Wald nahe der marokkanischen Stadt Tanger. Er verliere immer mehr die Hoffnung. Zum Abschied sagt er noch: «Ich wollte mein Zuhause nicht verlassen, jetzt bin ich hier. Warum lassen sie mich dann nicht wenigstens arbeiten?»
* Name geändert.