Migration: Höhere Zäune, höhere Erwartungen
Die derzeitige Migrationswelle von Nordafrika nach Europa hat verschiedenste Ursachen. Sie liegen auch im Arabischen Frühling. Vor allem in Libyen floriert ein lukrativer Menschenhandel, und MigrantInnen gelten als «Handelsgut».
Sie jubelten und umarmten sich, als sie Melilla – eine spanische Enklave in Marokko – erreichten. Endlich hatte sich der Traum der MigrantInnen aus verschiedenen subsaharischen Ländern erfüllt: Sie waren auf europäischem Boden. Allein in der letzten Woche gelang es mehr als tausend Menschen, über die drei Meter hohen Grenzzäune zu klettern. Im gleichen Zeitraum wurden in den Gewässern vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa über 5000 Menschen in verlotterten Booten gerettet.
Über Marokko und Libyen führen die beiden Hauptrouten der afrikanischen Migration nach Europa. Wie viele Menschen dort warten, weiss man nicht. Der spanische Geheimdienst sprach von insgesamt 30 000, die nur schon vor Melilla und Ceuta, der zweiten spanischen Enklave in Marokko, lagern würden, um die einzigen europäischen Landesgrenzen in Afrika zu überqueren. «Diese Zahlen sind weit übertrieben», sagt Judith Sunderland von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. «In Marokko gibt es rund 25 000 afrikanische Migranten, von denen nicht alle nach Europa wollen. Die meisten lagern auch nicht vor den Toren der Enklaven.»
Unter den MigrantInnen in Libyen und Marokko befinden sich neuerdings viele aus Syrien. Aufgrund des Bürgerkriegs suchen sie in Europa politisches Asyl. Ihr bevorzugtes Land ist Schweden, wo eine Aufenthaltsgenehmigung und finanzielle Unterstützung am leichtesten zu erhalten sein sollen. Menschen aus der Subsahara wollen vornehmlich nach Frankreich, Deutschland oder in die Niederlande. Europa steht, trotz Wirtschaftskrise, immer noch für ein besseres Leben. «In Europa geht alles wie von selbst, wenn man arbeitswillig ist», glaubt etwa ein Senegalese in der libyschen Küstenstadt Zuwara, von der viele Boote Richtung Italien auslaufen.
Einfluss des Arabischen Frühlings
Heute sind die Migrationszahlen so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Der letzte Höhepunkt war 2006, als insgesamt 32 000 Menschen die Kanarischen Inseln und über 15 000 Lampedusa erreichten. Zwischenzeitlich gingen die Zahlen um neunzig Prozent zurück. Das lag nicht zuletzt am politischen Druck, den die EU auf die Ursprungsländer der Überfahrten ausübte. In Marokko, Mauretanien, Libyen, Tunesien und im Senegal wurden die Behörden gezwungen, gegen Schmuggler von Flüchtlingen vorzugehen.
Der Arabische Frühling brachte jedoch neue Möglichkeiten. Zuerst kamen viele Boote aus Tunesien, wo es unmittelbar nach dem Sturz des alten Regimes keine staatliche Autorität gab. Aber die neue Übergangsregierung unterband die Abfahrt von Booten nach Italien rasch, obwohl sie sich bei vielen anderen, wichtigen Dingen sträflich Zeit liess.
Wichtiger für die derzeitige Migrationswelle ist die Situation in Libyen. Seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi existiert dort keine zentralstaatliche Gewalt mehr. Wer Geld und Beziehungen hat, kann in den lukrativen Menschenhandel einsteigen. MigrantInnen gelten als «Handelsgut» und werden zu Hunderten wochenlang in heruntergekommenen Gebäuden «gelagert». Danach werden sie auf Schiffe verfrachtet, von denen niemand weiss, ob sie die Überfahrt überstehen. Mittelsmänner aus subsaharischen Ländern rekrutieren die ausreisewilligen Menschen und dirigieren sie zu Sammelpunkten in Libyen.
In Marokko funktioniert es ähnlich, nur sind dort die Strukturen der Menschenhändler nicht so stark ausgeprägt. Seit über zehn Jahren gibt es kaum noch Boote nach Spanien, für die sie Plätze verkaufen könnten. Wer aus Niger, dem Tschad oder aus dem Senegal nach Marokko kommt, braucht Geduld und Glück oder viel Geld. Plätze in einem Boot oder in einem Autoversteck kosten bis zu 2400 Franken. Nach Melilla und Ceuta kommt man kostenlos über den Grenzzaun. Viele MigrantInnen sind seit Jahren in Marokko. Sie müssen betteln oder Gelegenheitsjobs erledigen, um zu überleben.
«Grenzen sind absurd»
Ein Malier, der sich Amadou nennt, weil er nicht erkannt werden will, ist seit neun Jahren in Marokko. «Ich würde keinem mehr empfehlen, die Reise zu machen», sagt der 38-Jährige in einem Camp am Rand einer kleinen Schlucht nahe Ceuta. «Die Leute sollten die 2000 oder 3000 Euro besser zu Hause investieren und sich eine Existenz aufbauen.» Amadou, der in Mali als Schreiner gearbeitet hatte, wurde erst vor einer Woche der Arm gebrochen. «Das ist ein Geschenk der marokkanischen Polizei», sagt er süffisant. «Sie hatte wieder einmal eine Razzia auf unser Camp im Wald gemacht, alles gestohlen und uns verprügelt.» Die alltägliche Brutalität der marokkanischen Behörden. Sie ist Bestandteil der Leidensgeschichte, die MigrantInnen für die Verwirklichung ihres Traums in Kauf nehmen müssen. Bereits auf dem Weg nach Nordafrika werden sie von Militärs oder Milizen in den Transitländern bestohlen, geschlagen, vergewaltigt.
«Der Glaube an das europäische Eldorado ist nicht auszurotten», sagt Javi Valdezate vom Onlinemagazin «lemigrant.net». «Die Grenzzäune können noch so hoch sein, die Leute werden davon nicht abgeschreckt.» Die Zäune würden nur die Erwartungen und die Leiden erhöhen. «Diese Grenzen sind absurd», sagt Valdezate, der einen Film über die Situation von MigrantInnen in Marokko drehte. «Sie sind eine tödliche Falle für alle, die von der europäischen Prosperität angezogen werden und in den Genuss der Menschenrechte kommen wollen, die es in ihren Heimatländern nicht gibt.»