Flüchtlingspolitik: Die ewige Sehnsucht nach Ruanda

Nr. 18 –

Ob bei den britischen Tories oder dem Schweizer Freisinn: Das ostafrikanische Land dient immer wieder als Projektionsfläche für die Ausschaffungsträume der Bürgerlichen. Woher kommt das Ansinnen? Und warum ist es so geschichtsblind?

Strassenszene in Ruanda nach der Unabhängigkeit am 1. Juli 1962
Die Schweizer Politik mit dem neokolonialen Tropenhelm hat eine lange Geschichte: Strassenszene in Ruanda nach der Unabhängigkeit am 1. Juli 1962. Foto: Keystone

Da stand Petra Gössi letzte Woche in der «Arena» des Schweizer Fernsehens und pries ihren aberwitzigen Plan als ultimative Lösung aller asylpolitischen Probleme an: Eritreische Geflüchtete mit negativem Asylentscheid sollen via Drittstaat in ihr Herkunftsland ausgeschafft werden. So hofft die FDP-Ständerätin, die Praxis des Regimes in Asmara, das nur freiwillig heimkehrende Personen zurücknimmt, aushebeln zu können. Auf alle Einwände ihrer Kontrahent:innen hatte Gössi bloss eine Antwort: die «abschreckende Wirkung». Selbst den Hinweis, ihre Massnahme würde nur rund 280 Personen betreffen, lächelte die ehemalige Parteipräsidentin weg. Hauptsache, Abschreckung.

Im Dezember war ein ähnlicher Vorstoss im Parlament gescheitert. Wenige Monate später hat die Rechte mit eifriger Hilfe verschiedener Medien die grösste Geflüchtetengruppe des Landes mal wieder erfolgreich als Problem markiert. Entsprechend stösst das Vorhaben nun auf Zuspruch: Am Donnerstag wurde es knapp von der nationalrätlichen Kommission gutgeheissen. Welcher Transitstaat ihr vorschwebt, hat Gössi auch schon bekannt gegeben: «zum Beispiel Ruanda».

Als williger Partner der europäischen Migrationsabwehr hat das ostafrikanische Land Hochkonjunktur. Letzte Woche stimmte das britische Oberhaus nach langem Widerstand dem «Ruanda-Deal» von Tory-Premier Rishi Sunak zu: Statt in Grossbritannien Asyl beantragen zu können, sollen Geflüchtete inskünftig nach Kigali geflogen werden. Für die Aufnahme und die Durchführung der Asylverfahren erhält die Regierung von Langzeitherrscher Paul Kagame mit zweifelhafter Menschenrechtsbilanz Hunderte Millionen Pfund aus London.

Das Oberste Gericht hatte das Ansinnen noch für völkerrechtswidrig erklärt, auch sämtliche Expert:innen sowie die Uno hatten gewarnt. Nun hat das britische Parlament Ruanda einfach per Gesetz zum «sicheren Drittstaat» erklärt. Denn was zählen schon Repression gegen Oppositionelle und mangelnde Rechtsstaatlichkeit, wenn es um die eigenen Interessen geht? Hauptsache, Abschreckung.

Der Idee, die Asylpolitik auszulagern, hat Sunak mit seinem «Ruanda-Deal» Auftrieb verliehen; neu ist sie keineswegs. Vielmehr kann sie auf eine langjährige Geschichte zurückblicken, zahlreiche Rechtsverschiebungen und neokoloniale Projektionen inklusive. Aber wie konnte es so weit kommen, dass schon bald der erste britische Charterflug in Richtung Subsahara abheben soll? Und an welchem Punkt kam Ruanda als Partner ins Spiel – ein Land mit tragischer Gewaltgeschichte, in der auch die Schweiz eine umstrittene Rolle spielt?

Auf dem Irrweg

Anruf bei Pro Asyl, der Organisation mit dem vielleicht besten Durchblick in den Irrungen und Wirrungen der europäischen Flüchtlingspolitik. Wann Ruanda erstmals im Diskurs als Helfer in der Migrationsabwehr auftauchte, kann die rechtspolitische Sprecherin Wiebke Judith auch nicht genau sagen. «Die Externalisierungsidee aber zieht sich seit Jahrzehnten wie ein roter Faden durch Europas Politik.» Ab Anfang der nuller Jahre schaffte Australien Asylsuchende auf abgelegene Inseln aus und nannte dies euphemistisch «pazifische Lösung». Wenig später tauchte der Plan auch in Europa auf: bei den Sozialdemokraten Otto Schily und Tony Blair, aber auch bei SVP-Justizminister Christoph Blocher. Sie alle liebäugelten damit, Asylanträge ausserhalb Europas prüfen zu lassen.

Seither geistert der Vorstoss in immer neuen Variationen herum: das «Ruanda-Modell» als internationaler Exportschlager. Kürzlich hat Italien mit Albanien vereinbart, die Asylverfahren im Mittelmeer aufgegriffener Geflüchteter dort durchzuführen. Ein Abkommen zwischen Dänemark und Ruanda wiederum ist letztes Jahr am Widerstand der EU-Kommission gescheitert.

In Grossbritannien habe sich der Plan nach dem EU-Austritt des Landes verfestigt, weil man fortan nicht mehr vom Dublin-System habe profitieren können und alle Asylgesuche selbst prüfen müsse, sagt Pro-Asyl-Sprecherin Judith. «Das Beispiel zeigt, was passiert, wenn Politik über die Menschenrechte gestellt wird.» Sie kritisiert die Auslagerungspläne als «Scheinlösungen», mit denen rechte Politiker:innen «Handlungsfähigkeit signalisieren» wollten. «Es ist ein dermassen klarer Irrweg, dass ich nicht verstehe, wieso das immer wieder aufkommt.» Wie andere Expert:innen zweifelt sie nicht bloss an der abschreckenden Wirkung dieser Politik, sondern hält auch die Durchführung von Verfahren in Ruanda für nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.

Hinzu kommt, dass wohlhabende europäische Staaten zwar immer öfter Gefallen an solchen Deals finden, sich kooperationswillige Drittstaaten aber nur schwer finden lassen. So haben die Mitglieder der Afrikanischen Union schon 2019 die Etablierung von Aufnahmezentren auf ihrem Gebiet abgelehnt – nicht zuletzt, weil die Zustimmung der jeweiligen Öffentlichkeiten fehlt. Ein autokratischer Herrscher wie Kagame in Ruanda ist auf das Wohlwollen seiner Bevölkerung weniger angewiesen – und er kann sich erst noch als guter Partner für den Westen präsentieren. Auch hofft Kagame wohl, die Kritik an seinem Vorgehen im Land selbst zum Verstummen zu bringen. Aber auch im Nachbarland Demokratische Republik Kongo, wo Ruanda Milizen unterstützt, die gegen die Regierung kämpfen.

«Dem Emmental gleichend»

Bei der FDP träumt indes nicht nur Gössi vom «Ruanda-Deal». Ständerat Andrea Caroni hat den Bundesrat beauftragt, Externalisierungspläne zu prüfen, auch wenn sich dieser bisher skeptisch gezeigt hat. Abgesehen von der fehlenden Praktikabilität oder den fragwürdigen menschenrechtlichen Standards irritiert dabei noch ein anderer Punkt: Ruanda wird in den Planspielen der Freisinnigen zum geschichtslosen Ort: einem unbeschriebenen Blatt Papier mit genügend Platz für die eigenen neokolonialen Projektionen. Dabei sollten angesichts der Geschichte der eigenen Entwicklungszusammenarbeit auch bei ihnen die Alarmglocken schrillen.

«Das Erste, was Wilhelm und ich taten, war, einmal die Karte von Afrika anzuschauen. Wir waren uns bewusst, dass wir uns nicht in einem sehr grossen Land engagieren konnten, wo man sehr leicht den Überblick verliert. So fanden wir auf der Karte diesen kleinen Staat.» Diese Worte von August R. Lindt, dem Delegierten des Bundesrats für technische Zusammenarbeit, zitiert der Historiker Lukas Zürcher in einem Artikel zur Schweizer Entwicklungspolitik in Ruanda. Der ostafrikanische Binnenstaat, in den sechziger Jahren unabhängig geworden, als «ein dem Emmental gleichendes grünes Hochland», als «Bergbauerndemokratie im Innersten Afrikas». «Dabei wurde der afrikanische Staat durch Mechanismen der selektiven Wahrnehmung und der Komplexitätsreduktion so lange modelliert, bis die Schweizer:innen ‹ihre› Schweiz im tropischen Afrika wiederzuerkennen glaubten», schreibt Zürcher.

Mit dem Fokus auf eine «technische Zusammenarbeit» mit Ruanda habe man die Kooperation mit dem Land entpolitisiert, sagt Thanushiyah Korn, die in Basel zur Geschichte der Beziehungen beider Länder forscht. Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit sei auch von einem kolonialen Blick geprägt gewesen, bei dem Stereotype über den afrikanischen Kontinent eine wichtige Rolle gespielt hätten. «Die Realität den eigenen Interessen unterordnend, duldete die Schweiz das in Ruanda herrschende Demokratiedefizit und unterstützte das Regime auch nach Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1990 weiter», so Korn. Ihre Zusammenarbeit habe sie trotz der organisierten Gewalt gegen die Tutsi, die später im Völkermord mit bis zu einer Million Toten gipfelte, fortgesetzt.

Auch wenn die damalige Situation nicht mit heute vergleichbar ist, scheint den gegenwärtigen Debatten über Ruanda als «sicheren Drittstaat» ein ähnlicher Geist innezuwohnen: Den neokolonialen Tropenhelm aufgesetzt, die Augen vor der desolaten Menschenrechtslage verschlossen, die eigene Mitverantwortung vergessen, frönen Rechte quer durch Europa ihren technischen Externalisierungsplänen.

Ruanda hat Grossbritannien übrigens bloss die Übernahme von 300 Asylsuchenden pro Jahr zugesichert – nicht einmal einem Prozent der Geflüchteten. Berechnungen zufolge soll die Deportation pro Person die britischen Steuerzahler:innen bis zu 1,8 Millionen Pfund kosten. Die Behörden sollen derweil bereits auf der Suche nach neuen Partnerstaaten sein.