24-Stunden-Betreuung: «Care-Migrant:innen wurden zum Teil Opfer von Menschenhandel»

Nr. 19 –

Die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) baut eine neue Beratungsstelle für Arbeiter:innen in Privathaushalten auf. Sich gegen Ausbeutung zu wehren, sei aber schwierig, sagt Projektleiterin Nora Riss.

WOZ: Nora Riss, vor rund zwei Jahren titelte die WOZ: «Wann gilt das Arbeitsgesetz endlich für alle?» Wie sieht es heute damit aus?

Nora Riss: Es hat sich wenig getan. Noch immer stellt sich die Frage, wie der wichtige Bundesgerichtsentscheid über die 24-Stunden-Betreuung von 2022 tatsächlich umgesetzt wird.

Die Richter:innen hatten geurteilt, dass für Betreuungsarbeit in Privathaushalten das Arbeitsgesetz gilt, sofern sie von einem Personalverleih organisiert wird. Wie haben die Personalverleiher reagiert?

Das hat kürzlich die Universität Zürich im Auftrag des Seco, des Staatssekretariats für Wirtschaft, untersucht. Demnach haben manche Personalverleiher das Modell der 24-Stunden-Pflege aufgegeben. Andere aber sind dazu übergegangen, Präsenzzeit der Arbeiter:innen nicht mehr als solche anzurechnen. Sie übernachten jetzt also im Haushalt, wo sie Betreuungsarbeit leisten, und die Arbeitgeber tun so, als wäre das Freizeit. Obwohl die Betreuer:innen auch während dieser angeblichen Ruhezeit im Notfall eingreifen müssen.

Portraitfoto von Nora Riss
Nora Riss, FIZ

Ist die 24-Stunden-Betreuung überhaupt mit dem Arbeitsgesetz vereinbar?

Wenn sie nur durch eine einzelne Person geleistet werden soll: nein. Ein Schichtbetrieb oder längere Abwesenheiten, etwa nachts, wären unabdingbar.

Betreuer:innen, die direkt in einem Haushalt angestellt sind, können sich nicht auf das Gerichtsurteil berufen.

Genau. Bei solchen Arbeitsverhältnissen gelten weiterhin kaum Schutzbestimmungen für die Arbeiter:innen.

Letztes Jahr hat der Nationalrat ein Postulat an den Bundesrat überwiesen. Dieser muss jetzt prüfen, wie jede Art 24-Stunden-Betreuung dem Arbeitsgesetz unterstellt werden könnte. Was erhoffen Sie sich davon?

Ich erhoffe mir eine nationale Regelung. Das Seco versucht noch, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Zuständig seien die Kantone. Klar ist aber auch: Letztlich könnten die gesetzlichen Bestimmungen perfekt sein – eingehalten würden sie deswegen noch lange nicht.

Wieso nicht?

Für migrantische 24-Stunden-Betreuer:innen ist es enorm schwierig, die Rechte einzufordern, die ihnen zustünden. Sie müssen sich das so vorstellen: Eine Betreuerin kommt zu uns in die Beratung. Sie wird von ihrem Arbeitgeber widerrechtlich ausgebeutet, indem sie beispielsweise rund um die Uhr anwesend sein muss, und sie kann das sogar beweisen. Und dann? Können wir einen Brief schreiben. Wir können eine Betreibung einleiten oder die Schlichtungsbehörde anrufen. Aber das kostet alles Zeit. Bis sich eine staatliche Instanz mit ihrem Fall beschäftigt, hat sie ihren Job längst verloren. Das heisst, sie hat auch kein Dach mehr über dem Kopf, kein Geld – und keine Aufenthaltsbewilligung mehr.

Ihre Beratungsstelle gibt es in dieser Form erst, seit die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration das «Netzwerk Respekt» übernommen hat, ein Zusammenschluss von 24-Stunden-Betreuer:innen, der seit zehn Jahren Beratungen anbietet. Bisher war das Netzwerk der Gewerkschaft VPOD angeschlossen. Wieso ist es nun an Sie übergegangen?

Wir von der FIZ wollten unsere Arbeit in diesem Bereich vertiefen. Bislang unterhielten wir zwei Abteilungen: Wir bieten Beratungen für gewaltbetroffene Migrantinnen an und betreiben ein Schutzprogramm für Opfer von Menschenhandel. Das Thema der Arbeitsausbeutung begegnet uns in beiden Bereichen regelmässig. Und wir erachten es als sinnvoll, dass es eine schweizweite Anlaufstelle gibt, die sich auf die Fragen spezialisiert, die sich an der Schnittstelle von Migration und Care-Arbeit stellen.

Lassen sich 24-Stunden-Betreuer:innen beraten, die Opfer von Menschenhandel wurden?

Ja, das kommt vor. Diese Fälle wollen wir in unseren Beratungen identifizieren und die Betroffenen gemäss ihren Rechten weitergehend unterstützen. Zum Beispiel, indem wir Schutzwohnungen bereitstellen – im Rahmen unseres Opferschutzprogramms. Dafür bestehen Leistungsvereinbarungen mit den meisten Deutschschweizer Kantonen. Es ist allerdings schwierig, Arbeitsausbeutung strafrechtlich zu verfolgen.

Damit der Straftatbestand Menschenhandel als erfüllt gilt, muss ein Vorsatz der Täter:innen nachgewiesen werden können. Das ist sehr schwierig – ob es nun um Fälle von Arbeitsausbeutung oder von sexueller Ausbeutung geht. Ist eine Anklage wegen Menschenhandel nicht möglich, bleibt in einem Fall von sexueller Ausbeutung aber die Möglichkeit, auf Förderung von Prostitution zu plädieren. Im Bereich der Arbeitsausbeutung gibt es keine solche Alternative. Bloss den Lohnwucher. Das ist aber ein einfaches Vermögensdelikt, bei dem kein Anspruch auf opferhilferechtliche Leistungen besteht.

Sie fordern einen alternativen Tatbestand?

Ja, und das wird derzeit auch auf Bundesebene diskutiert – im Rahmen des nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel und der Behandlung der Motion von EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller. Zwei Optionen sind denkbar: eine Anpassung des Tatbestands Menschenhandel, sodass er auch auf weniger schwere Fälle anwendbar wäre; oder ein neuer Straftatbestand für Arbeitsausbeutung. Wichtig ist uns, dass die Betroffenen Zugang zu Opferschutzprogrammen und opferhilferechtliche Unterstützung erhalten. Die Gesetzesänderung ist aber nur ein erster Schritt. Es kommt auf die Umsetzung an: In Deutschland besteht zwar ein solcher Tatbestand, er wird aber kaum angewandt.

Werden die Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten staatlich überprüft?

Es gibt Kontrollen, diese werden aber schriftlich durchgeführt: Personalverleiher werden also angefragt, ob sie die rechtlichen Bestimmungen einhalten, und müssen einige Unterlagen einreichen. Das hat nicht unbedingt etwas mit der Realität in den Haushalten zu tun. Ein grosses Problem ist zudem, dass die Behörden von den direkten Anstellungen in Haushalten gar nichts wissen. Sie werden nicht erfasst und sind auch nicht meldepflichtig.

Ein wirksamer Schutz bei der Care-Arbeit in Privathaushalten scheint in weiter Ferne. Sollte man die Angebote nicht einfach verbieten?

Wir müssen uns fragen, ob und wie wir die Betreuung betagter Menschen zu Hause ermöglichen können: ohne die Rechte der Arbeiter:innen zu untergraben – und so, dass sie auch Menschen ohne Vermögen zugänglich ist. Ich glaube, die meisten pflegebedürftigen Personen wünschten sich eigentlich eine faire Entlöhnung ihrer Betreuer:innen. Viele können sich das aber nicht leisten. Da müsste man ansetzen. Sonst wird die Betreuungsarbeit von Angehörigen geleistet, die dafür gar keinen Lohn erhalten. Oder die Betroffenen müssen ins Heim, wenn sie denn können: Dort fehlen Tausende Plätze.

Nora Riss (33) ist Juristin. Bei der FIZ verantwortet sie den Bereich Arbeitsausbeutung und Care-Arbeit.