24-Stunden-Betreuung: Wann gilt das Arbeitsgesetz endlich für alle?
Das Arbeitsgesetz schützt Beschäftigte vor Überarbeitung. Aber nicht alle. Ausgenommen sind unter anderem 24-Stunden-Betreuer:innen. Deren Arbeitskampf macht sich jetzt bezahlt. Das könnte über die Branche hinaus von Bedeutung sein.
Das Mitte Januar veröffentlichte Urteil des Bundesgerichts erschüttert eine Branche. Darin kommen die Richter:innen zum Schluss, dass die Arbeit von 24-Stunden-Betreuer:innen, die bei einer Personalverleihfirma angestellt sind, dem Arbeitsgesetz untersteht – und damit deutlich schärfere Schutzbestimmungen gelten.
Dem Urteil vorausgegangen ist ein einzigartiger Arbeitskampf von migrantischen Care-Arbeiter:innen. Eine von ihnen ist Ella Wind, die eigentlich anders heisst. «Unsere Arbeit ist hart und anspruchsvoll», sagt sie. Wind arbeitet via eine Personalverleihfirma schon seit mehreren Jahren als sogenannte Live-in-Betreuerin. Sie mache diesen Beruf eigentlich gern: «Aber wir müssen dafür kämpfen, dass unsere Arbeitsbedingungen endlich besser werden.» Wind wohnt bei einem älteren Herrn, der an Demenz leidet und den sie betreut. Sie ist also fast immer in seiner Nähe – und damit auch verantwortlich. «Schon morgens um vier Uhr stehe ich auf und bereite die Morgentoilette für ihn vor, und noch abends koche ich ihm ein Abendessen», erzählt sie. Immer für einen Monat ist sie in der Schweiz, dann verbringt sie einen Monat in Polen an ihrem Hauptwohnsitz. Jemand anders ersetzt sie dann.
Pro Monat verdient sie in der Schweiz netto 3000 Franken, während ihrer Ruhephase in Polen dagegen nichts. Daraus ergibt sich ein monatliches Nettoeinkommen von 1500 Franken. «Ich weiss, dass das in der Schweiz ein schlechter Lohn ist», sagt sie. Sie hat sich deshalb dem Netzwerk «Respekt» angeschlossen. «Ich bin gut vernetzt mit anderen Betreuer:innen», sagt Ella Wind. «Respekt» ist der Gewerkschaft VPOD angegliedert.
Über das Urteil hat sich Wind sehr gefreut: «Vielleicht ist das jetzt ein erster Schritt zu besseren Bedingungen.» Sie macht sich aber Sorgen, dass nun mehr Arbeiter:innen direkt von den Haushalten angestellt werden. Bei solchen Arbeitsverhältnissen gilt das Arbeitsgesetz auch weiterhin nicht. Und anstelle des Personalverleihs könnten Vermittlungsagenturen an Bedeutung gewinnen. Wie viele der in der Schweiz tätigen Live-in-Betreuer:innen bei einem Personalverleih angestellt sind, wird nicht statistisch erfasst.
Care-Arbeit ist Arbeit
Dass 24-Stunden-Betreuer:innen nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt sind, hat das Modell erst möglich gemacht. Zu diesem Schluss kam schon 2015 ein Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Denn Care-Arbeiter:innen wie Wind müssen fast rund um die Uhr in Bereitschaft sein, um in einem Notfall eingreifen zu können. Mit der im Arbeitsgesetz vorgeschriebenen Ruhezeit von zwölf Stunden ist das nicht vereinbar. Ausserdem müsste laut Gesetz Pikettdienst, der am Arbeitsort selbst absolviert werden muss, als volle Arbeitszeit vergütet werden.
Das Arbeitsgesetz stammt von 1964 und ist aus dem ehemaligen Fabrikgesetz hervorgegangen. Es enthält Schutzmassnahmen, die über Jahrzehnte hinweg von Arbeiter:innen erkämpft wurden und heute weitgehend unbestritten sind. Bislang gilt es neben Berufen in privaten Haushaltungen auch nicht für die Seeschifffahrt, Fischereibetriebe und die Landwirtschaft.
Die Soziologin Sarah Schilliger forscht zur Arbeit im Hauswirtschafts- und Landwirtschaftssektor. «Mitarbeiter:innen auf Landwirtschaftsbetrieben galten früher als Mägde und Knechte, Angestellte in Privathaushalten als Dienstmädchen», erklärt sie. Sie hätten keine geregelten Arbeitszeiten gehabt und stets zu Diensten sein müssen. Und bis heute wirke sich aus, dass Care-Arbeit traditionell nicht als richtige Arbeit wahrgenommen worden sei, sondern eher als «Liebesdienst» von Frauen.
Noch viele Unsicherheiten
Dem jetzigen Urteil des Bundesgerichts vorausgegangen ist ein Gutachten, das der VPOD 2019 beim Rechtsprofessor Kurt Pärli in Auftrag gegeben hatte. Pärli sollte die Frage klären, unter welchen Voraussetzungen das Arbeitsgesetz nicht doch auf die Arbeit in privaten Haushaltungen anwendbar sein müsste. Sein Ergebnis: dann, wenn die Betreuung über eine Personalverleihfirma organisiert wird. «Dass in solchen Dreiecksverhältnissen das Arbeitsgesetz nicht gelten soll, habe ich nie verstanden», sagt Pärli gegenüber der WOZ.
Auf der Grundlage seines Gutachtens hat der VPOD Beschwerde beim Verwaltungsgericht von Basel-Stadt eingereicht – in erster Instanz noch erfolglos. Dass das Bundesgericht jetzt anders entschieden hat, ist zunächst ein grosser Erfolg, aber die Sache ist derzeit noch mit vielen Unsicherheiten verbunden.
Neben der Gefahr, dass nun Personalverleihfirmen umgangen werden, ist auch offen, wie die kantonalen Arbeitsämter die neu geschaffenen Rahmenbedingungen umsetzen werden. Sie sind für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes zuständig und damit ab jetzt auch zu entsprechenden Inspektionen verpflichtet. Diesbezüglich werde bald ein Austausch zwischen den Kantonen und dem Seco stattfinden, schreiben verschiedene Arbeitsämter der WOZ auf Anfrage. Ein Knackpunkt sei etwa die Einhaltung der Privatsphäre bei Inspektionen in Privathaushalten, schreibt Katrin Jung vom Arbeitsamt St. Gallen.
Personalverleihfirmen geben sich zurzeit noch gelassen. Vier Anbieter schreiben auf Anfrage, sie würden sich keine Sorgen machen. Eine Firma bedankt sich sogar für den Hinweis auf das Urteil. Sie alle verweisen darauf, dass zurzeit sowieso schon sogenannte kantonale Normalarbeitsverträge (NAVs) für alle 24-Stunden-Betreuer:innen gelten. Zudem gebe es den Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih. Allerdings beinhaltet dieser keine Bestimmungen zu Ruhezeiten, und die kantonalen NAVs haben bloss Empfehlungscharakter: Ihre Bestimmungen können in anderslautenden Arbeitsverträgen unterboten werden.
Das Seco hält derweil an seiner Einschätzung fest und schreibt der WOZ: «Gemäss den aktuell geltenden Regeln des Arbeitsgesetzes ist eine Betreuung rund um die Uhr über mehrere Wochen hinweg durch nur eine Person nicht möglich.» Wer recht behält, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
Ein Paradigmenwechsel?
Letztlich sind die formaljuristischen Rahmenbedingungen aber bloss ein Element auf dem Weg zu faireren Bedingungen für alle. Doch das Urteil bringt Bewegung in das Thema. «Womöglich wird es auch Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben», so die Soziologin Sarah Schilliger. Dort stellen Personalverleihe aber nur einen kleinen Teil der Arbeitskräfte.
Im besten Fall markiert das Urteil aber einen Paradigmenwechsel. Derzeit evaluiert der Bundesrat die Wirksamkeit der jetzt geltenden NAVs in der 24-Stunden-Betreuung. Der entsprechende Bericht soll in Kürze veröffentlicht werden. Sollte er zum Schluss kommen, dass sie die Arbeiter:innen nur unzureichend schützen, könnte der Bundesrat in Betracht ziehen, die Ausnahmeregelung für Privathaushalte ganz aufzuheben.