Die neuen Gastarbeiter:innen Die 24-Stunden-Betreuung ist ein elementarer Bestandteil des Schweizer Pflegesystems – und basiert auf der Ausbeutung von Care-Migrant:innen.

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Draussen sieht die Schweiz so aus wie in den Bilderbüchern: ein kleines Dorf, das mehrheitlich aus Bauernhäusern besteht, umgeben von weitläufigen Feldern, Kuhglocken sind zu hören. Drinnen sitzt Jadwiga Styk in einem düsteren Kellerzimmer, das für drei Monate ihr Zuhause ist. In diesem Haus spielt sich derzeit ihr ganzes Leben ab. Höchstens einmal pro Woche fährt sie für einige Stunden in die nächste Stadt, die nur eine halbe Stunde entfernt liegt. Doch inzwischen tut sie auch das nur noch selten. Sie zeigt auf ein kleines Kellerfenster: «Wenn ich so lange eingeschlossen und allein bin, fange ich an, mich vor der Welt da draussen zu fürchten.» Sie fühle sich wie in einem Loch. «Ich denke mir: Wahrscheinlich gehe ich verloren.»

Jadwiga Styk, die eigentlich anders heisst, arbeitet als Betreuerin im selben Haushalt, in dem sie auch wohnt. Ihre Patientin, wie Styk sie nennt, wohnt oben im Haus. Während des rund zweistündigen Gesprächs hält diese einen Mittagsschlaf. «Aber es kann jederzeit sein, dass etwas passiert und sie mich ruft.»

Der Fachbegriff für dieses Arbeitsmodell heisst «Live-in Care». Besser bekannt ist es als 24-Stunden-Betreuung: die Unterstützung einer pflegebedürftigen Person durch eine Arbeitskraft, die rund um die Uhr für sie da ist – und die dazu bei der betreuten Person wohnen muss. Jeweils für zwei oder drei Monate lebt und arbeitet Jadwiga Styk in der Schweiz, immer im gleichen Haushalt. Dann fährt sie für einige Wochen nach Polen, wo sie eine eigene Wohnung hat. Vermittelt wurde sie von einer Personalverleihfirma, bei der sie angestellt ist. Sie gilt als sogenannte Pendelmigrantin.

Betreuer:innen betreuen

Wie viele 24-Stunden-Betreuer:innen es in der Schweiz gibt, weiss niemand genau, weil Live-in Care nicht statistisch erfasst wird. Auch Bozena Domanska weiss es nicht, obwohl vermutlich kaum jemand diese Branche besser kennt als sie. Domanska steht im Büro der Gewerkschaft VPOD in Basel, für die sie als Beraterin tätig ist, und noch bevor sie sich an den Tisch setzt, redet sie sich in Rage. «Menschenhandel ist das nicht direkt», sagt sie, macht eine Pause. «Doch für einen Hungerlohn so viel zu arbeiten – ich weiss nicht, wie ich das sonst nennen sollte.»

Dann erzählt sie unzählige Anekdoten aus dem Leben von Live-in-Betreuer:innen: von einer Familie, die ihrer polnischen Angestellten gesagt habe, sie solle dankbar sein für den schönen Blick auf die Schweizer Berge, nachdem diese sich über die Arbeitsbelastung beschwert hätte; von einer Betreuerin, die mittlerweile sogar für die Pflege der Pferde ihrer Patientin verantwortlich sei; von mehreren Betreuer:innen, die hungern würden, weil ihnen für den Einkauf zu wenig Geld gegeben werde. «Das macht mich am traurigsten: dass manche von uns bei ihren Auftraggeber:innen um Essen bitten müssen.»

Domanska hat über Jahre selber als Live-in-Betreuerin gearbeitet. Dann stellte sie sich für einen SRF-Dokfilm zum Thema zur Verfügung. Sie gab Interviews, trat in Talksendungen auf, wurde bekannt – und dann entlassen. Das war 2013. Heute ist sie für das dem VPOD angegliederte Netzwerk «Respekt» zuständig, eine Anlaufstelle für Live-in-Betreuer:innen. «Früher betreute ich pflegebedürftige Personen, heute betreue ich ihre Betreuer:innen.» «Respekt» organisiert öffentliche Veranstaltungen, unterstützt Care-Migrant:innen dabei, sich untereinander zu vernetzen, und informiert sie über ihre Rechte. Rund hundert Personen sind dem Netzwerk angeschlossen. Sie kämpfen zum einen dafür, dass die geltenden arbeitsrechtlichen Vorgaben in den Haushalten eingehalten werden, und zum anderen dafür, dass diese endlich griffiger werden.

Spielraum für Ausbeutung

24-Stunden-Betreuer:innen seien völlig unzureichend geschützt, sagt Karin Schwiter. Sie ist Professorin für Arbeitsgeografie an der Universität Zürich und hat das Buch «Gute Sorge ohne gute Arbeit? Live-in-Care in Deutschland, Österreich und der Schweiz» mit herausgegeben. Der Sammelband analysiert unter anderem die unübersichtliche rechtliche Situation in der Schweiz.

Die Branche untersteht dem Normalarbeitsvertrag (NAV) für Hauswirtschaft. Dieser wurde als verbindliche Massnahme gegen Lohndumping beschlossen und schreibt einzig einen Mindestlohn von zurzeit 19.20 Franken pro Stunde für ungelernte Betreuer:innen während der ersten vier Jahre vor, später rund zwei Franken mehr. Bei einer Wochenarbeitszeit von offiziell 44 Stunden bedeutet das einen monatlichen Bruttolohn von rund 3600 Franken. Für Kost und Logis dürfen davon noch 990 Franken abgezogen werden.

Darüber hinaus erarbeitete der Bund 2018 den «Modell-NAV für die Regelung der 24-Stunden-Betreuung». Er enthält Bestimmungen zur Ruhezeit und zum Bereitschaftsdienst. Die Weisungen in den kantonalen NAV, die sich an diesem Modell orientieren, können gemäss Schwiter mit anderslautenden Abmachungen im Arbeitsvertrag jedoch leicht umgangen werden.

Verbindliche Bestimmungen zum Schutz der Betreuer:innen vor Überarbeitung fehlen also fast gänzlich. Der NAV empfiehlt eine wöchentliche Arbeitszeit von 44 Stunden, der Widerspruch zum Versprechen «24-Stunden-Betreuung» wird ausgeblendet. Spielraum für Ausbeutung ermöglicht der Bereitschaftsdienst, der gesetzlich kaum limitiert ist. Dieser muss zwar entschädigt werden, der Modell-NAV empfiehlt aber bloss ein Entgelt von fünf Franken pro Stunde. Und in Arbeitsverträgen würden oft noch tiefere Ansätze festgelegt, sagt Karin Schwiter.

Immer in Bereitschaft

Jadwiga Styk kennt diese Regelungen gut. Sie hat einen Masterabschluss in Jura und vor ihrer Arbeit als Live-in-Betreuerin auf Personalabteilungen in Warschau gearbeitet. «Diese Verträge haben nichts mit unserer Realität zu tun. Wir sind in diesem Beruf unausweichlich rund um die Uhr an unsere Patient:innen gebunden.» Wirkliche Ruhezeiten gebe es sowieso nur, wenn noch eine eine weitere Person im Haus sei und Verantwortung übernehme.

Jeden Morgen hilft Styk ihrer Patientin aus dem Bett, am Abend unterstützt sie sie bei der Abendtoilette. Nur am Samstagnachmittag, wenn die Spitex die Betreuung übernimmt, hat sie fünf Stunden lang wirklich frei. Die restliche Zeit ist sie allein verantwortlich für ihre Patientin. Immer in Bereitschaft für den Fall, dass etwas passiert. «Nachts versuche ich, nicht zu tief zu schlafen», sagt Styk. Schon mehrmals habe sie dringend helfen müssen, weil ihre Patientin aus dem Bett gefallen sei.

Laut ihrem Arbeitsvertrag hätte sie klar geregelte Arbeitszeiten und eineinhalb Tage pro Woche frei. Aber das gilt nur auf dem Papier: In den zweieinhalb Monaten, die sie jetzt wieder in der Schweiz verbringt, hatte sie noch kein einziges freies Wochenende. Von ihrer Personalverleihfirma sei sie dazu angehalten worden, ihre Arbeitsstunden nicht aufzuschreiben. Die Strategie dahinter ist klar: Sie soll allfällige Überstunden nicht geltend machen können. «Das machen alle diese Firmen so», sagt Styk. Weil viele Betreuer:innen sich entweder nicht gut auskennen würden oder Angst hätten, ihre Stelle zu verlieren, würden sich die meisten daran halten.

Eine Besserung der prekären Arbeitsbedingungen ist nicht in Sicht. 2016 veröffentlichte der Bundesrat eine Studie zu den möglichen Folgen verschiedener Regulierungsinstrumente, die die Arbeitsbedingungen in der Live-in Care verbessern könnten. Die Studie führte schliesslich zur Minimallösung, die noch heute gilt. Die strengste Variante, die in der Studie diskutiert wurde: die Unterstellung der 24-Stunden-Betreuung unter das Arbeitsgesetz. Kündigungsfristen und Ferienansprüche sind im Obligationenrecht geregelt, schärfere Bestimmungen enthält das Arbeitsgesetz. Darin sind Höchstarbeitszeiten oder Regelungen zur Nachtarbeit festgehalten. Einige Arbeitsbereiche sind davon jedoch ausgenommen: die Landwirtschaft, die Fischerei – und private Haushaltungen.

Das Arbeitsgesetz, das 1964 in Kraft trat, ist eine Weiterentwicklung des früheren Fabrikgesetzes. Die Arbeit in den Haushalten sei vom Arbeitsgesetz ausgenommen worden, weil sie nicht als richtige Arbeit wahrgenommen worden sei, sagt Karin Schwiter. «Bei diesem Entscheid spielte die Abwertung der Hausarbeit als Frauenberuf eine entscheidende Rolle.» Diese Abwertung findet bis heute statt.

Von Ungleichheit profitieren

Schwiter sieht in der Live-in Care klare Parallelen zur früheren sogenannten Gastarbeit. «Die Arbeiter:innen sollen nicht längerfristig in der Schweiz leben, sollen isoliert bleiben und ihre Arbeitskraft in einem anderen Land reproduzieren.» Nur arbeiten sollen sie hier – und zwar möglichst viel. Möglich macht das das Wohlstandsgefälle zwischen der Schweiz und anderen Staaten. Jadwiga Styk hatte in Warschau ihre Stelle verloren und keine neue gefunden. Die Sozialhilfe hätte nicht ausgereicht, um ihre Wohnung zu bezahlen. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, habe sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als in einem reicheren Land Arbeit zu suchen.

Das System Live-in Care schlägt Kapital aus dieser Ungleichheit. Deutlich populärer sei freilich das Narrativ, das Modell ermögliche eine Win-win-Situation, sagt Schwiter. «Für Polen sei das ja ein guter Lohn, heisst es dann.» Das stimmt aber nur bedingt: Auch während der Zeit in der Schweiz müssen Pendelmigrant:innen weiterhin für Miete und Krankenkasse an ihrem Hauptwohnsitz aufkommen. Und auf einen Arbeitseinsatz von vier bis zwölf Wochen in der Schweiz folgt in der Regel eine gleich lange Phase ohne jegliches Einkommen. Gemäss Berechnungen von Schwiter und weiteren Forscher:innen verdienen Live-in-Betreuer:innen auf das Jahr gerechnet pro Monat etwa 1500 Franken. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Warschau beträgt rund 1700 Franken. Vor allem aber werde meist ausgeblendet, dass die Arbeit in der Schweiz und nicht in Polen ausgeübt werde, so Schwiter: «Das sind bekannte Legitimationsstrategien. Wir erlauben uns, Migrant:innen deutlich schlechter zu behandeln, weil wir eine Unterscheidung machen zwischen uns und ihnen.»

In ihrem Kellerzimmer bekommt Styk diese Diskriminierung direkt zu spüren: Als ihre Patientin noch mehr Energie gehabt habe, sei sie aggressiv gewesen, erzählt sie. Sie sei schon bespuckt und geschlagen, als Sklavin und als blöde Polin beschimpft worden. «Irgendwann habe ich mich selbst dafür geschämt, aus Polen zu kommen.»

Bozena Domanska ist auch acht Jahre nach ihrer Entlassung noch wütend und kämpferisch. «Live-in Care ist ein sehr anspruchsvoller Beruf, der endlich gerecht bezahlt werden muss.» Dann kämen auch seine schöneren Seiten mehr zum Tragen. «Im Kern geht es doch darum, Menschen zu helfen», sagt sie. Aber ist es überhaupt möglich, derart umfassende Hilfe fair zu gestalten? Domanska zögert. «Wenn die Arbeit nur an einer Person hängen bleibt, ist das wohl schwierig.» Die Familie müsse mitmachen, es dürfe nicht alles an die Betreuerin delegiert werden, zudem müsse der Bereitschaftsdienst eingeschränkt werden.

Systemrelevanter Hungerlohn

Besonders weit verbreitet sind Live-in-Care-Angebote für rund 6000 Franken pro Monat. Das ist kein Zufall: Die Betreuung in einem Alters- und Pflegeheim kostet im Schnitt rund 9000 Franken monatlich; zwei Drittel davon tragen, wenn möglich, die Patient:innen, der Rest entfällt auf die öffentliche Hand und Krankenversicherungen. Für die Auftraggeber:innen bleiben die Kosten für Live-in Care also gleich – der Service hingegen ist individueller.

Die Studie über die Folgen verschiedener Regulierungsmassnahmen, die der Bundesrat in Auftrag gegeben hat, kommt entsprechend zum Schluss: Wenn die Arbeitsbedingungen von Live-in-Betreuer:innen verbessert würden, würde die Nachfrage nach Pflegeheimplätzen steigen, weil die Unterbringung im Heim dann günstiger wäre als die Pflege zu Hause. Eine Unterstellung der Live-in Care unter das Arbeitsgesetz würde für das Gesundheitswesen demnach zu jährlichen Mehrkosten von dreissig bis neunzig Millionen Franken führen. Noch entscheidender ist gemäss Studie aber die Frage, ob die zusätzlichen Heimplätze angesichts des grossen Mangels an Pflegefachpersonen überhaupt noch ausreichend betreut werden könnten.

Das Schweizer Pflegesystem ist also auf Betreuer:innen wie Jadwiga Styk angewiesen. Und darauf, dass sie überbeansprucht und schlecht bezahlt werden.

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