Licht im Tunnel: Wildes Wetter
Michelle Steinbeck wandert durch die Abruzzen
Schon kurze Zeit nach dem Tod unseres Kindes kamen mir Träume von Trauerreisen. Etwa stehen wir am Ufer eines Meeres, das die Farbe von Rotwein hat, hinter uns mächtig ein dunkler Vulkan. Am Strand stehen viele Menschen, alle halten wie wir in den Händen Becher mit Rotwein. Wir trinken und schauen schweigend zum Horizont.
In der Realität gehen wir einige Zeit später in den SportX und kaufen uns Wanderschuhe. Wir steigen in den Zug und fahren in den Süden, laufen los, landen in abruzzischer Wildnis. Der Weg, den wir hier verfolgen, ist eine einzige Metapher unserer Trauer. Er beginnt in pittoresken Dörfchen, führt bei Sonnenschein durch Blumenwiesen und Vogelkonzert, hinauf, hinauf, wo plötzlich der Nebel hinter dem Gipfel hervorkriecht, auf uns zujagt, uns schluckt. Wir ziehen uns Socken über die Hände, um sie vor der plötzlichen Kälte zu schützen, laufen im strömenden Regen auf einem Wolfspfad, dem Abgrund entlang.
Wir werden eingeschneit, geben auf, nehmen den Bus in die Stadt. Hier scheint die Sonne, das Beste draus machen, Aperitivo. Leere. Irren durch die Einkaufsstrasse. In einem schicken Sportgeschäft geben wir ein Vermögen aus für lange Unterhosen, Handschuhe. Wir gehen in die Berge zurück.
Stundenlang pflügen wir durch knietiefen Schnee, den Spuren von Rehen, Wölfen, Bären nach. Hier bringt es wenig, gelesen zu haben, dass dieser Bär grundsätzlich ein freundlicher sei. Dass eine Begegnung selten sei und man im Fall der Fälle einfach kein Selfie mit dem Bären machen soll. Hier merken wir, dass unser Wille zum Überleben stark ist. Wir haben den Weg verloren, die Schuhe durchnässt. Folgen dem Rauschen des Flusses, in dessen Tal der Weg weitergehen soll. Da! Jede Markierung ein Meilenstein. Schliesslich, endlich eine geteerte Strasse – wir beginnen zu rennen, mit Rucksack und Wanderschuhen, lachend. Die Sonne bricht durch die Wolken.
Und am nächsten Morgen beginnt alles von vorn.
Auf der letzten Etappe erreichen wir ein zur Abwechslung bevölkertes Dorf. Wir hören das Fest von weitem: menschlicher Stimmenteppich, Grillfeuergeruch. Es ist der 25. April, Feiertag, der Tag der Befreiung Italiens vom Faschismus. Ein Tag, der heute in Anbetracht der politischen Führung des Landes zu zynischen Sprüchen verleiten kann. Doch nicht in diesem winzigen Dorf. Hier treffen wir auf einen Umzug: rote Fahnen, rote Hemden. Sie kommen aus der Stadt, aus der Stadt meiner Grossmutter, um hier einen Partisanen zu feiern, der ebenfalls aus jener Stadt kam und in diesem Dorf später lebte. Sie laden uns ein, mit ihnen zu gehen. An den Hauswänden Hammer und Sichel, ein alter Mann dreht in seiner Garage Spiesschen auf dem Grill: «Die sind für euch!» Auf dem Dorfplatz eine Ausstellung, Reden, Fotos – «Wollt ihr einen Becher Wein?»
Tags darauf, am Strand von Pescara. Ein riesiges Zelt versperrt den Blick aufs Meer. Banner und Flaggen. Polizei, Security, Menschenauflauf. Die Fratelli d’Italia haben sich für ihre diesjährige Programmkonferenz eine Stadt «im Süden» ausgesucht. Was tun? «Merda»-Sprüchlein in den Sand kratzen? Wir laufen dem Ufer entlang, weit, weit, bis das Zelt ausser Sicht ist. Hier schreiben wir mit unseren Schritten den Namen unseres Sohnes in den Sand. So gross, dass er vom Weltall aus zu sehen sein wird.
Michelle Steinbeck ist Autorin und verwaiste Mutter in Trauer.