Proteste in Georgien: «Die Gen Z steht für die Zukunft ein»
Die Massendemonstrationen in Georgien gegen das geplante «Agentengesetz» gehen weiter: Was treibt die überwiegend jungen Menschen an? Unterwegs auf den Strassen von Tbilissi.
Die Nacht ist über Tbilissi hereingebrochen. Trotz Regen und Kälte marschieren Tausende in gleichmässigem Tempo zum georgischen Parlament. Ein paar Demonstrant:innen verteilen Pizzastücke, andere tanzen zu Technomusik. Vor bestimmten sensiblen Gebäuden der Landeshauptstadt stehen Polizisten mit Sturmhauben in Kolonnen. Sie erinnern an die turbulenten Szenen aus den vergangenen Wochen, von denen in den sozialen Medien Videos kursieren – an die Einsätze von Wasserwerfern, an Tränengas und Gummigeschosse.
Seit April finden in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien ununterbrochen Demonstrationen gegen das «russische Gesetz» statt, ein Gesetz, das nichtstaatliche Organisationen und Medien, die mehr als zwanzig Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, dazu zwingt, sich als «ausländische Agenten» registrieren zu lassen. Am 1. Mai hat das georgische Parlament das Gesetz in zweiter Lesung verabschiedet. Zurzeit ist es vor allem die Generation der Achtzehn- bis Dreissigjährigen, die gegen diese autoritären Bestrebungen auf die Strasse geht.
«Die Generation Z ist eine progressive Generation. Eine Generation von Menschen, die für das kämpfen, was sie wollen, und damit ihre Freiheit ausdrücken», sagt Merabi*, seine Stimme bricht vom stundenlangen Rufen der Anti-Putin-Parolen. In den vergangenen vier Wochen hat der Achtzehnjährige jede Nacht protestiert. «Für uns ist Russland wie ein grosser wütender Bär, der unser Land von allen Seiten angreift. Wir wollen Nein sagen. Nein zu Russland. Und Nein zu diesem Gesetz, das unsere Freiheit zerstört.»
«Ein katastrophaler Rückschritt»
Es ist kein Zufall, dass die Demonstrant:innen das geplante Gesetz gezielt mit Russland in Verbindung bringen: 2012 verabschiedete das Regime von Wladimir Putin ein ähnliches Gesetz. Dieses unterwirft zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien strengen administrativen und finanziellen Vorschriften und dient als juristische Waffe, um innenpolitische Gegner:innen zum Schweigen zu bringen. In Georgien befürwortet die prorussische Regierungspartei Georgischer Traum das Gesetz. Sie hatte bereits im vergangenen Jahr versucht, die umstrittene Vorlage zu verabschieden. Damals gelang es dank der enormen Proteste zunächst, dies zu verhindern.
Bidsina Iwanischwili, Gründer von Georgischer Traum und ehemaliger Premierminister, ist der Mann, der die Fäden des politischen Lebens in Georgien zieht. Der prominente Oligarch, der sein Vermögen in Russland gemacht hat, hielt am 29. April eine offen antiwestliche Rede. Dabei drohte er unverhohlen, seine politischen Gegner:innen nach den bevorstehenden Wahlen im Oktober zu «bestrafen», was international Besorgnis auslöste.
«Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, wird bei uns sehr Ähnliches passieren wie mit den NGOs in Russland.» Tamar Jakeli versucht, den Lärm des Protests zu übertönen. «Wir werden keine Freiheit mehr haben, das wäre ein katastrophaler Rückschritt für unsere Demokratie.» Vom Westen gegründete Organisationen haben in Georgien dazu beigetragen, kritische Medien und Transparenzinitiativen gegen Korruption aufzubauen.
Nach Angaben der Europäischen Kommission befürworten 83 Prozent der georgischen Bevölkerung einen EU-Beitritt. Im September erhielt das Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten – das nun verabschiedete Gesetz könnte diese Hoffnung jedoch begraben: Brüssel warnte, es sei mit den Werten der Europäischen Union «unvereinbar».
Protestierende willkommen
Für Tamar Jakeli, die 28-jährige Mitorganisatorin der Demonstration, will Georgiens Jugend ein Teil Europas sein, weil das als einzige Alternative zu Russland erscheint. Auch die 26-jährige Nata, eine andere Demonstrantin, teilt diese Analyse: «Die geopolitische Lage des Landes lässt keinen Raum für politische Neutralität», sagt sie. «Wir sind mit einem politischen Bewusstsein aufgewachsen. Wir protestieren, seit wir denken können; im Grunde seit unsere Eltern uns auf die Strasse liessen.»
Ein Stück weiter steht David, der leicht nervös wirkt. Es ist das erste Mal, dass er mit seinen beiden Töchtern im Alter von sieben und elf Jahren an einer der Demonstrationen teilnimmt. «Sie haben seit langem danach gefragt», erklärt der 32-Jährige. «Ich denke, sie haben es verdient, zu verstehen, was vor sich geht. Ich möchte, dass sie einen kritischen Verstand entwickeln, ohne alles in Schwarz und Weiss, in gute und schlechte Menschen, einzuteilen. Letztlich ist es das Wichtigste, starke Institutionen zu haben – und das ist es, was nun auf dem Spiel steht.»
Die Konfrontation zwischen der westlichen und der russischen Welt zeigt sich offenkundig im Südkaukasus. Viele Demonstrant:innen erwähnen die russische Invasion im Jahr 2008. Sie erfolgte nach Monaten eskalierender Spannungen wegen der von Russland unterstützten abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien. Das russische Regime erkannte diese als unabhängige Staaten an und dehnte seine militärische Besetzung auf zwanzig Prozent des georgischen Hoheitsgebiets aus.
In der Menschenmenge auf den Strassen von Tbilissi haben sich viele Demonstrant:innen georgische und europäische Flaggen umgehängt wie die Capes von Superheld:innen. Einige, wie David, tragen die blauen und gelben Farben der ukrainischen Flagge. «Die Ukraine kämpft den Krieg, den wir seit Jahrhunderten führen», sagt er. «Der Verlauf dieses Krieges betrifft unser aller Zukunft. Wenn die Ukraine verliert, sind wir alle aufgeschmissen.» Viele Demonstrant:innen befürchten, das russische Regime könnte auch in Georgien wieder einmarschieren, wenn das «Agentengesetz» verabschiedet wird und das Land keine Unterstützung von der EU erhält.
Der breite Schota-Rustaweli-Boulevard zwischen dem Parlament und dem Platz der Freiheit ist voller Menschen. Gruppen von Freund:innen stehen lachend zusammen, unterhalten sich angeregt. Dass diese nächtlichen Massendemonstrationen so lange andauern können, liegt auch daran, dass sie von einer immensen Welle der Solidarität und des Gemeinschaftsgefühls getragen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Initiative «Welcome them in your homes»: Die Facebook-Gruppe ist in nur einer Woche von 45 000 auf 171 000 Mitglieder angewachsen. Jeden Tag werden darin Hunderte Nachrichten gepostet, die den Demonstrant:innen Unterkunft, Essen, Fahrgemeinschaften und sogar Kinderbetreuung anbieten, damit sie weiter protestieren können.
Während die Atmosphäre auf dem Rustaweli-Boulevard gegenwärtig freundlich und friedlich ist, kommt es gegen Ende der Nacht häufig zu Zusammenstössen mit der Polizei. Einige Videos in den sozialen Medien zeigen besonders gewaltvolle Szenen, Demonstrant:innen, die zusammengeschlagen werden; sie haben viele sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Landes schockiert. So wurde etwa Lewan Khabeischwili, Vorsitzender der führenden Oppositionspartei United National Movement, am 1. Mai von der Polizei schwer verletzt. In einem auf Facebook geposteten Video zeigt er seine gebrochene Nase und andere schwere Verletzungen in seinem Gesicht und ruft die Menschen auf, den «Kampf gegen die Putinisten» fortzusetzen.
Snacks, Trillerpfeife, Gasmaske
Dito, ein 25-jähriger Grafikdesigner, ist in Tbilissi aufgewachsen. Seit zwei Wochen kommt er jeden Abend zu den Protesten, meist allein: «Meine Freunde sind anderer Meinung als ich», sagt er. Das Packen seiner Tasche für die Proteste ist für ihn zu einer neuen Feierabendroutine geworden: eine Flasche Wasser, Snacks, Trillerpfeife, Gasmaske und Schutzbrille. «Ich weiss, dass es gewalttätig werden kann», sagt er. «Ich will nicht lügen: Ein gewisses Mass an Adrenalin ist mit im Spiel. Aber was die Polizei getan hat, ist nicht normal. Schauen Sie, was ich gefilmt habe …» Das Video, das er aufgenommen hat, zeigt die gewaltsame Verhaftung eines Mannes mit nacktem Oberkörper, umgeben von Dutzenden Polizisten.
Dito überquert den Rustaweli-Boulevard und betritt die Kaschweti-Kirche. Wie viele andere Demonstrant:innen will der junge Mann der Kreuzigung Jesu gedenken, wie es am Roten Freitag des orthodoxen Osterwochenendes Tradition ist. Viele Christ:innen besuchen dann jeweils den nächtlichen Gottesdienst, zünden Kerzen zum Gebet an. An diesem Abend haben die Jugendlichen, die zum Beten gekommen sind, Fahnen umgehängt, von ihren Hälsen baumeln Trillerpfeifen. «Dieses Foto schreibt Geschichte», sagt der unabhängige Fotograf Maxime. Er hat es vor ein paar Minuten aufgenommen: Ein junger Mann mit EU-Flagge kniet in der Kirche, seine Stirn auf den Altar gelegt.
Das Foto birgt eine starke symbolische Bedeutung: Laut einer Umfrage des Caucasus Research Resource Center aus dem Jahr 2021 betrachten 79 Prozent der Georgier:innen die georgisch-orthodoxe Kirche als das Fundament der Identität ihres Landes. Die Konservativen verbreiten derweil die Rhetorik, dass eine engere Anbindung an Europa zum Verlust der georgischen Traditionen und religiösen Überzeugungen führen würde. Letztes Jahr, als die Proteste ebenfalls mit der Osterzeit zusammenfielen, behauptete Premierminister Irakli Gharibaschwili gar, die Demonstrant:innen trügen «die Uniformen von Satanisten», wie Radio Free Europe berichtete.
«Unsere Regierung sagt, wir seien Atheisten oder Satanisten, aber das stimmt nicht. Wir glauben an Gott», sagt Maxime. «Wir ehren unsere Religion, unsere Vorfahren, unsere Kultur», fügt Mariami, eine zwanzigjährige Medizinstudentin, hinzu. «Heute Abend tun wir beides, wir protestieren und wir beten.» Ein Priester steht vor dem Altar, die Augen geschlossen, während die Gläubigen nacheinander nach vorne kommen, um der Bibel auf dem Altar Ehre zu erweisen. Die Rufe und Gesänge derjenigen, die vor dem Parlament geblieben sind, hallen von draussen in die Kirche.
Mit 83 zu 23 Stimmen haben die Parlamentarier:innen am 1. Mai dem umstrittenen Gesetzesentwurf zugestimmt. Für Mitte Mai ist die dritte und finale Lesung des Gesetzes geplant. Entsprechend sind die Demonstrant:innen entschlossen, weiter zu protestieren, bis die Regierung das Gesetz zurückzieht. Gerade auch, weil die Regierungspartei nach den Protesten letztes Jahr einen Rückzieher machen musste. «Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit», sagt Demomitorganisatorin Tamar Jakeli optimistisch. «Europa hört uns, Medien aus aller Welt sind hier. Je mehr wir demonstrieren, desto mehr wird man uns hören.»
* Die meisten Protestierenden möchten ihren Nachnamen nicht publiziert wissen. Sie befürchten negative Konsequenzen für sich oder ihre Familien.
Aus dem Englischen von Merièm Strupler.