Georgien nach der Wahl: «Nun beginnen die Proteste erst»

Nr. 44 –

Nach der Siegeserklärung der georgischen Regierungspartei gehen die Menschen wieder zu Tausenden auf die Strasse. Sie wollen das mutmasslich manipulierte Ergebnis nicht akzeptieren.

Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili hat die Bevölkerung höchstpersönlich zu friedlichen Protesten und zum Boykott der Wahlergebnisse aufgerufen. Zehntausende Menschen sind daraufhin am Montagabend in der Hauptstadt Tbilissi auf die Strasse gegangen.

«Ihr habt die Wahl nicht verloren», rief Surabischwili den Demonstrant:innen vor dem Parlamentsgebäude zu. «Sie haben eure Stimmen gestohlen und versucht, eure Zukunft zu stehlen, aber niemand hat das Recht, das zu tun. Ich werde das niemandem erlauben!» Neben ihr stehen die oppositionellen Spitzenpolitiker:innen, die mitdemonstrieren, um ein Zeichen gegen die Wahlergebnisse zu setzen.

Die Menschen applaudieren, heben die Hände als Zeichen der Solidarität mit der Opposition und schwenken die Flaggen Georgiens und der EU. «Ich dachte, diese Wahlen würden unsere im Frühjahr begonnenen Strassenaktionen beenden, aber heute beginnen die Proteste erst richtig. Ob wir das noch durchhalten?», fragt eine junge Frau und fügt hinzu: «Aber Schweigen macht uns zu Sklavinnen und Sklaven.»

«Wir sind alle in Eile und haben keine Geduld mehr. Wir dürfen keinen Schritt mehr zurückgehen», sagt eine andere Demonstrantin.

Mit Friedensversprechen manipuliert

Die erneuten Proteste folgen auf ein Wahlwochenende, an dem sich die Regierungspartei Georgischer Traum zur klaren Siegerin erklärt hat: Sie reklamierte 54 Prozent der Stimmen für sich. Die prowestliche Opposition kam nach offizieller Darstellung auf knapp 37,7 Prozent. Damit würde der Georgische Traum 89 von 150 Abgeordnetenmandaten erhalten. Die vier Oppositionsgruppen, die die verbleibenden 61 Sitze unter sich aufteilen sollen, haben bereits bekannt gegeben, dass sie ihre Mandate nicht annehmen werden. Denn bereits kurz nach der Verkündung der offiziellen Ergebnisse gab es zahlreiche Hinweise auf Unregelmässigkeiten und Manipulation von Wähler:innen.

Während sich die oppositionellen Parteien und Blöcke vor der Wahl wegen zu grosser Differenzen nicht auf eine:n gemeinsame:n Kandidat:in einigen konnten, haben sie sich nach der Wahl sehr schnell wieder zusammengerauft – vom inhaftierten ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili über den früheren georgischen Ministerpräsidenten Giorgi Gacharia, der auch Innenminister unter der Regierung des Georgischen Traums war, bis hin zu mehreren Politikern und Unternehmerinnen, die in der Vergangenheit Konflikte mit beiden hatten. Zudem haben sich junge Jurist:innen und ehemalige Journalist:innen, die in die Politik gegangen sind, dem Protest angeschlossen.

Die gesamte Opposition ist sich ganz offensichtlich darüber einig, dass die Wahlergebnisse nicht akzeptiert werden können, was auch der protestierenden Bevölkerung in den Strassen Mut machen dürfte weiterzukämpfen. Dennoch gibt es Zweifel an den Erfolgsaussichten der Strassenproteste. Für den 65-jährigen Verleger David Kakabadse war der grösste Fehler der Opposition, dass sie im Wahlkampf das Thema Frieden einfach der Regierung überlassen hat. «Der Georgische Traum hat das sehr gut ausgenutzt und die Leute mit der Behauptung manipuliert, dass nur sie Frieden und Sicherheit in Georgien garantieren könnten», sagt Kakabadse, der mit seiner Frau zur Demonstration gekommen ist. «Das ist natürlich Unsinn. Der Frieden liegt in Europa, wo Demokratie geschätzt wird, und nicht in Russland. Aber die Opposition hat für viele Menschen ein zu wichtiges Thema ausser Acht gelassen», sagt er.

Orbáns Auftritt

Die Opposition fordert Neuwahlen, jedoch ohne die georgische Wahlkommission, sondern mit einer internationalen Wahlbehörde. Für Kakabadse und für viele andere klingt das arg utopisch. «Unsere aktuelle Strategie ist, eng mit unseren Partnern im Ausland zusammenzuarbeiten, damit diese anerkennen, dass die Opposition diese Wahlen gewonnen hat. Wir hören bereits entsprechende Signale aus der EU», sagt Lewan Zuzkiridse, einer der Anführer des Oppositionsbündnisses Starkes Georgien, im Gespräch.

Gleichzeitig traf am Sonntag EU-Ratspräsident Viktor Orbán in Begleitung mehrerer Regierungsmitglieder zu einem unerwarteten Besuch in Georgien ein. Im Hotel Marriott im Zentrum von Tbilissi tauchte er ausgerechnet dann auf, als sich georgische Oppositionsführer mit westlichen Diplomaten trafen – und kurz vor Beginn der Protestkundgebung gegen die Wahlfälschungen. Vor dem Hotel buhte die Menge Orbán aus und begleitete ihn mit Pfiffen auf die Strasse hinaus. Erst am nächsten Tag trat Orbán mit seinem georgischen Amtskollegen Irakli Kobachidse während einer gemeinsamen Medienkonferenz erneut auf. In seiner Rede erklärte er, dass in Georgien «demokratische und freie Wahlen abgehalten wurden» und dass das georgische Volk nicht allzu ernst nehmen solle, dass in Europa darüber gestritten würde.

«Ein gewaltfreier Kampf für Freiheit»

Noch am Abend des Protests gab die Opposition bekannt, dass Oppositionspolitiker Zuzkiridse alle Beweise für Wahlverstösse vor Gericht bringen will. Deswegen bittet er die Bevölkerung, ihm alle Informationen, Fotos oder Videoaufnahmen, die sie am Wahltag gemacht haben, zukommen zu lassen. Die lokale Organisation My Vote, die den Wahltag überwachte, fordert die Annullierung der Wahlergebnisse von fast 200 Wahllokalen – wo die Organisation einen Betrugsplan aufgedeckt haben will: In den entsprechenden Wahlbezirken sei mit gefälschten Ausweisdokumenten gewählt worden.

Die georgischen Institutionen demonstrieren gegenüber der EU derweil Handlungsbereitschaft: Die zentrale Wahlkommission hat eine Neuauszählung in rund vierzehn Prozent der Wahllokale angeordnet, diese werden allerdings per Losverfahren bestimmt. Die Staatsanwaltschaft wiederum hat Ermittlungen wegen Wahlbetrug eingeleitet – jedoch als Erstes die regierungskritische Präsidentin Salome Surabischwili vorgeladen.

Wenn gerichtlich festgestellt wird, dass die Wahl in der Hälfte aller Wahlkreise Georgiens ungültig war, muss eine Neuwahl abgehalten werden. Doch Lewan Zuzkiridse bezweifelt, dass es zu einem fairen Verfahren kommen wird: «Strafverfolgungsbehörden und Gerichte in Georgien sind stark politisiert und von der Regierung abhängig.» Dennoch sei es wichtig, dass zumindest ein Verfahren eingeleitet werde.

«Ein grosser Teil der georgischen Bevölkerung führt seit Wochen und Monaten einen gewaltfreien Kampf für Freiheit. Ich denke wirklich, dass unsere Gesellschaft dem Rest der Welt zeigen kann, wie man den Putinismus bekämpft. Diesen Kampf werden wir fortsetzen», sagt Zuzkiridse.