Proteste in Georgien: Kein Wandel ohne neues Modell

Nr. 11 –

Nach heftigem Widerstand hat die Regierung in Tbilissi ihr «Agentengesetz» zurückgezogen. Der Unmut grosser Teile der Bevölkerung aber bleibt.

Nur wenige Minuten dauerte die Sitzung am prächtigen Rustaweli-Boulevard im Herzen der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Doch was das Parlament vergangenen Freitag beschloss, war eine radikale Kehrtwende: Nach tagelangen Protesten, Tränengas, Wasserwerfern und über hundert Festnahmen verwarf eine Mehrheit in zweiter Lesung jenen umstrittenen Gesetzesentwurf, der so viele erzürnt hatte.

Bereits einen Tag zuvor war die Regierungspartei Georgischer Traum von ihrem Vorhaben abgerückt. Bei Annahme wären alle NGOs und Medien, die mehr als ein Fünftel ihres Geldes aus dem Ausland erhalten, als «ausländische Agenten» gelabelt worden. Die Regierung argumentierte mit Transparenzbestrebungen, die Protestierenden hingegen sahen die Massnahme als Instrument, um unliebsame Organisationen mundtot zu machen. Mit derselben Praxis hat das Putin-Regime in Russland schon vor Jahren die Basis für seine heutige Diktatur gelegt. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass gerade jene Russ:innen, die in Georgien zuletzt Zuflucht gesucht hatten, zum Widerstand gegen die Pläne aufriefen.

Dass der autoritäre Schritt abgewendet werden konnte, ist ein Erfolg der georgischen Gesellschaft, die die Regierung mit ihrem Widerstand zum Einlenken gezwungen hat. Unterstützt wurde die Bewegung von der Opposition, von Künstler:innen und Sportler:innen – und von Staatspräsidentin Salome Surabischwili. Beobachter:innen verglichen den Protest mit dem ukrainischen Euromaidan von 2013/14.

Von der EU enttäuscht

Mit dem Rückzug des Gesetzesentwurfs versucht die Regierung nicht zuletzt, ihre Macht zu erhalten. Ein taktischer Rückzieher, um sich nicht vollends zu diskreditieren – auch im Hinblick auf die Parlamentswahl im kommenden Jahr. Das Vertrauen der Protestierenden dürfte sie mit dem Schachzug allerdings nicht wiedererlangt haben.

Seit der Unabhängigkeit haben sich die Georgier:innen immer wieder gegen ihre jeweilige Führung gestellt. 2003 stürzten sie in der Rosenrevolution ihre Regierung, die sie des Wahlbetrugs bezichtigten. Doch auch die Opposition, die mit Michail Saakaschwili an der Spitze die Macht übernahm, bekam den Unmut der Bevölkerung wiederholt zu spüren. 2012 verlor Saakaschwilis Partei Vereinte Nationale Bewegung die Wahl; die absolute Mehrheit erreichte der damals neu gegründete Georgische Traum.

Auf die Hoffnung auf mehr Demokratie folgte jeweils rasch die Ernüchterung. «Die neuen Regimes kehrten schnell zur georgischen Norm zurück – eine dominante Partei, die die Ressourcen des Staates, Unternehmen und die Justiz nutzt, um ihre Bürger zu kontrollieren», schreibt der US-Historiker Stephen Jones, der das Georgienprogramm in Harvard leitet, in einem Meinungsbeitrag. Echter Wandel könne erst entstehen, wenn sich das gesamte Politikmodell ändere.

Schon in der Vergangenheit gingen die Menschen immer wieder für die Annäherung an die EU auf die Strasse, so etwa letzten Sommer. Anlass war ein Entscheid aus Brüssel: Während die Ukraine und die Republik Moldau den Status von Beitrittskandidatinnen erhielten, wurde Georgien mit einer «europäischen Perspektive» abgespeist. Als «Hausaufgabe» erhielt die Regierung einen Zwölfpunkteplan, von dessen Umsetzung die Chancen auf den Kandidatenstatus abhängen würden.

Gerade viele junge Georgier:innen waren vom Verdikt der EU schwer enttäuscht: Sie empfanden es als ungerecht, für die Versäumnisse ihrer Führung büssen zu müssen. Die jetzigen Proteste fielen auch deshalb so heftig aus, weil viele befürchteten, ihre Hoffnung auf einen EU-Beitritt bei Annahme des «Agentengesetzes» endgültig begraben zu können. Dabei würden rund achtzig Prozent der Georgier:innen ihr Land am liebsten als Mitglied im Staatenbund sehen.

Russlands nächstes Opfer?

Den Beitrittskandidatenstatus hatte Brüssel unter anderem mit Verweis auf die politische Polarisierung sowie die grosse Macht der Oligarchen verweigert. Im Blick hatte die EU-Kommission damit in erster Linie jenen Mann, der den Georgischen Traum gegründet hat und bis heute im Hintergrund die Fäden zieht: den Milliardär Bidsina Iwanischwili. Reich geworden ist er inmitten der Privatisierungswelle der neunziger Jahre mit Rohstoffgeschäften in Russland. Später tauchten seine Offshorekonten auf den Virgin Islands im Steueroasen-Leak «Pandora Papers» auf. Iwanischwili ist auch der als russlandfreundlich wahrgenommene Kurs seiner Partei zuzuschreiben.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hält sich die Regierung in Tbilissi mit Kritik am Kreml zurück. Auch den Sanktionen gegen Russland hat sich Georgien nicht angeschlossen. Doch zugleich fürchten viele Menschen im Land, dem Imperialismus des grossen Nachbarn als Nächste zum Opfer zu fallen. Niemand hat den Kaukasuskrieg im Sommer 2008 vergessen: Seither hält Moskau zwanzig Prozent des georgischen Territoriums besetzt.

Die Proteste sind nach dem Rückzug des «Agentengesetzes» zwar abgeflaut, die Unzufriedenheit mit der Politik aber bleibt. Kürzlich gaben 61 Prozent in einer Umfrage an, sich von keiner Partei repräsentiert zu fühlen. Die EU wiederum will noch in diesem Jahr die Umsetzung des Zwölfpunkteplans überprüfen. Viele junge Georgier:innen hoffen, dass Brüssel sie nicht erneut für die Politik ihrer Regierung bestraft.