Richtungswahl im Kaukasus: Georgische Träume

Nr. 43 –

Hunderttausende haben in Georgien in den letzten Monaten für mehr Demokratie demonstriert. Die russlandfreundliche Regierungspartei will bei den Wahlen vom Wochenende derweil ihre Macht festigen.

Foto von LGBT-Aktivistin Mariam Rigvava in Tbilissi
«Lasst den Kopf nicht hängen, wir werden gewinnen!»: LGBT-Aktivistin Mariam Rigvava in Tbilissi. 

«Zwei Tage bis zum Sieg», wird Mariam Rigvava am Erscheinungstag dieser Zeitung mit schwungvollen Buchstaben an die Tafel schreiben. Der Countdown bis zu den Wahlen vom kommenden Wochenende, den sie jeden Tag aktualisiert, hängt wie ein Symbol der Hoffnung an der Wand des Büros der Tbilissi Pride. Für die junge Aktivistin Rigvava und Hunderttausende wie sie ist der Wahltag mehr als nur irgendein politisches Ereignis. Diese Parlamentswahlen entscheiden: Schlägt die Republik im Südkaukasus mit ihren 3,7 Millionen Einwohner:innen den europäischen Weg ein, oder schlittert sie unter eine diktatorische Herrschaft?

Vor knapp zwei Wochen ist Rigvava 23 Jahre alt geworden. Sie versammelte ihre Freund:innen im Büro der Pride – Aktivist:innen, Journalist:innen, Mitglieder von NGOs –, all jene, die die Regierung als «ausländische Agenten» bezeichnet. An der Tafel stand in Grossbuchstaben: «Willkommen zu Mariams Geburtstag». Darunter eine Botschaft: «Es bleiben 13 Tage bis zum Sieg!» Während mehrere Leute hastig rosa Luftballons aufbliesen, stand Rigvava selbst, in Rosa gekleidet, mitten im Raum und umarmte die neu angekommenen Gäste. Sie sprudelte vor Energie, sprang auf und ab, redete schnell und entschlossen und lächelte: «Lasst den Kopf nicht hängen, wir werden gewinnen!»

Programme interessieren kaum

Am kommenden Wochenende werden die Georgier:innen ihr 150-köpfiges Parlament wählen. Die Wahlen folgen auf Monate der politischen Unruhen. Hunderttausende Menschen gingen in den Grossstädten des Landes auf die Strassen, um gegen die Politik der Regierungspartei Georgischer Traum zu demonstrieren. Das georgische Parlament hat dieses Jahr zwei umstrittene Gesetze nach russischem Vorbild verabschiedet.

Das Gesetz gegen «ausländische Einflussnahme» verlangt, dass sich NGOs und Medien, die mindestens zwanzig Prozent ihrer finanziellen Mittel aus dem Ausland erhalten, als «Vertreter ausländischer Interessen» registrieren lassen. Das ist ein Schlag gegen die gesamte Zivilgesellschaft und gegen die unabhängigen Medien, die finanziell von westlichen Zuwendungen abhängig sind. Mit dem neuen Gesetz besteht die Gefahr einer totalen Kontrolle der Opposition durch den Staat, so wie es in Russland der Fall ist.

Mit dem zweiten Gesetz will die Regierung gegen «LGBT-Propaganda» kämpfen. Es verbietet unter anderem Geschlechtsangleichungen oder die Adoption durch Homosexuelle. «Doch das Gesetz ist nicht nur ein Problem der LGBT-Gemeinschaft – diese Gesetze greifen alle an, die kritisch denken und ihre Freiheit verteidigen wollen», sagt Rigvava an ihrem Geburtstagsfest. «Auch unsere Projekte zu Sexualerziehung und Feminismus werden darunter fallen. Die Regierung wird einfach all diese Themen mit LGBT-Propaganda in Verbindung bringen, uns also zensieren und bestrafen.»

Die Türen des Balkons des Büros stehen weit offen, Zigarettenrauch und Gemurmel erfüllen die Luft. Menschen mit Getränken in der Hand unterhalten sich entspannt, während der Abendwind sanft über die georgische Flagge auf der einen und die Regenbogenfahne auf der anderen Seite streicht. Der Balkon befindet sich mitten im Zentrum der pulsierenden Hauptstadt. Und er trägt eine dunkle Geschichte in sich.

Am 5. Juni 2021 wurde die Tbilissi Pride abgesagt, nachdem die georgische orthodoxe Kirche die Veranstaltung verurteilt und sie als Versuch bezeichnet hatte, «schwere Sünden zu legalisieren». An jenem Tag stürmten Männer das dreistöckige Gebäude, kletterten hinauf und drangen über den Balkon in das Büro ein. Mariam Rigvava schaffte es damals gerade noch, das Gebäude rechtzeitig zu verlassen, bevor die Randalierer näher rückten. Heute fürchtet sie, dass sich mit einem Sieg der Regierung ein solches grausames Szenario wiederholen könnte.

Am 20. Oktober demonstrieren in Tbilissi erneut Hunderttausende Menschen. Junge und Ältere, mit Velo, Kinderwagen oder im Rollstuhl, gehen an diesem Abend auf die Strasse. Aus verschiedenen Richtungen ziehen Demonstrant:innen mit georgischen und europäischen Flaggen zum Platz der Freiheit, wo ein Orchester die Hymne der EU spielt. Rigvava steht in der ersten Reihe; sie trägt eine Jacke mit der US-amerikanischen Flagge. Ihr Studium der freien Kunst hat sie kürzlich abgebrochen. Sie erachte den Aktivismus im Moment als wichtiger, sagt sie während des Protestmarsches.

«Bei dieser Wahl geht es nicht um Sympathien für die einzelnen Politiker:innen oder ihre Programme», so Mariam Rigvava, «sondern darum, rein mathematisch zu berechnen, welche neue kleine Oppositionspartei Stimmen braucht, um die Fünfprozenthürde zu überwinden.» Und Oppositionsparteien gibt es in Georgien Dutzende. Das einzige verbindende Thema: die Gegnerschaft zur Regierung und deren Russlandkurs. Die seit zwölf Jahren herrschende Elite in Georgien hingegen will ihre Macht festigen und oppositionelle Kräfte weiter marginalisieren.

Geschäfte mit Russland

Im Zentrum dieser politischen Dynamik steht der Milliardär Bidsina Iwanischwili, der Anführer der Regierungspartei Georgischer Traum. Sein Vermögen und seine Geschäfte sind eng mit Russland verbunden, und seine Priorität scheint zu sein, dass seine wirtschaftlichen Interessen nicht gefährdet werden. Nach der russischen Invasion in die Ukraine 2022 verzeichnete die georgische Wirtschaft ein starkes Wachstum, was nach Ansicht von Experten in erster Linie auf die internationale Konjunktur zurückzuführen ist.

Georgien verdankt seinen wirtschaftlichen Erfolg aber auch der Vertiefung der Beziehungen zu Russland während dessen Krieg gegen die Ukraine. Russland ist zum grössten Lieferanten von Erdölprodukten für Georgien geworden, russische Staatsbürger:innen haben von 2022 bis heute etwa 37 400 Unternehmen in Georgien registriert, darunter sind grosse Akteure, die in fast allen Sektoren der georgischen Wirtschaft präsent sind, einschliesslich Energie, Telekommunikation, Industrie und Glücksspiel. Die Quote der absoluten Armut lag in Georgien im Jahr 2023 dennoch bei 11,8 Prozent und die Arbeitslosigkeit bei über 16 Prozent.

Genau diese Wähler:innenschicht nehme die Regierungspartei ins Visier, sagt Eka Nizharadze. Die 52-Jährige ist Schauspielerin am Staatstheater Marjanischwili in Tbilissi. Während ihre Kinder in Tbilissi leben, pendelt sie zwischen Stadt und Land. Ihr Herz gehört den Hügeln Kachetiens. Dort, im Osten des Landes, wo sich die georgischen Berge erheben und die berühmten georgischen Rebsorten wachsen, liegt das Dorf Artana, wo Nizharadze lebt. Die kaukasischen Berge erheben sich majestätisch im Hintergrund, jenseits der Berge liegt Russland. «Die regierende Partei erpresst wirtschaftlich benachteiligte Menschen sowohl in der Hauptstadt als auch in den Regionen damit, dass ihre Sozialhilfe gestrichen wird, wenn sie nicht für die Regierungspartei stimmen», sagt Nizharadze. «Das gesamte Personal des öffentlichen Dienstes, von den Schulen bis zu den Spitälern, soll wiederum daran denken, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren könnten.»

Das Staatstheater bereitete für den Wahlabend eine grosse Aufführung vor, bei der Eka Nizharadze die Hauptrolle hätte spielen sollen. Aber sie weigerte sich. Stattdessen wird sie am Wahlabend als lokale Wahlbeobachterin für die Opposition fungieren. Die Bedeutung von fairen Wahlen sei wichtiger als der Applaus im Theater, wo sie monatlich etwa 300 Franken verdient – mehr oder weniger der Durchschnittslohn in Georgien.

Nizharadze zieht ihre Gummistiefel an, bindet sich die Schürze fest um die Taille und legt einen Schal um den Hals, bevor sie in den Weinkeller hinabsteigt. Der Duft der reifen Trauben, die bereits in grossen Fässern gären, erfüllt die kühle Luft. Heute wird der Nachbar Lewan Tswelebaschwili helfen, wie so oft. Der 69-jährige Winzer, der fast sein ganzes Leben der Weinherstellung gewidmet hat, ist ein erfahrener Mann, der den Weinbau wie kaum ein anderer versteht.

Braunes Trinkwasser

Eka Nizharadze nimmt den Eimer mit den saftigen Trauben, hebt ihn an und giesst die tiefrote Flüssigkeit in ein Sieb. Tswelebaschwili, der bereits mit aufgekrempelten Ärmeln wartet, drückt die Trauben mit seinen grossen, geübten Händen aus und lässt die gepresste Masse in einen grossen Glasbehälter fliessen. «Lewan, gestern war ich im Fernsehen», sagt Nizharadze. Sie meint den oppositionellen Sender Formula. «Ich habe über die Probleme unseres Dorfes gesprochen, dass das Trinkwasser aus der Leitung braun ist vor Dreck und die Strassen voller Schlaglöcher und unbefahrbar. Hast du mich gesehen?», fragt Nizharadze, während sie die nächste Ladung Trauben ins Sieb giesst. Tswelebaschwili schüttelt den Kopf. «Die Frauen haben eine türkische Serie geschaut», antwortet er.

Lewan Tswelebaschwili hat in diesem Jahr mehr als eine Tonne Trauben gesammelt, doch der Verkauf lief schleppend. Ein Kilogramm verkaufte er für 1 oder 1,5 Lari (32 oder 48 Rappen). Die Abnehmer bieten niedrige Preise, die Strassen sind in einem schlechten Zustand für den Transport, und die Dieselpreise steigen. «Und da ich schon alt bin, brauche ich helfende Hände, auch die kosten Geld», beschwert er sich. «Wie kannst du nur dieser Regierung deine Stimme geben?», fragt Nizharadze wütend. «Ich habe keine Angst vor harter Arbeit», erwidert er ruhig, «aber Krieg ist eine schreckliche Sache.» Er lässt seine Worte kurz in der Stille hängen, bevor er weiterspricht: «Bidsina Iwanischwili wird nicht zulassen, dass wir mit Russland in einen Krieg geraten.»

Wenn die Opposition die Frage stellt, ob Georgien den Weg Europas oder den der russischen Herrschaft einschlagen solle, kontert die Regierung mit zwei Alternativen: Krieg oder Frieden? Das Narrativ, dass die Ukraine in den Krieg geraten sei, weil sie sich für den europäischen Weg entschieden habe, spielt der russlandfreundlichen Regierung in Tbilissi in die Hände. Es dient dazu, die Bevölkerung in Angst zu versetzen und zu warnen, dass Georgien das gleiche Schicksal drohen könnte wie der Ukraine.

Offiziell leben etwa 800 Menschen in Artana, doch ein Blick auf die Realität erzählt eine andere Geschichte. Tatsächlich sind es kaum halb so viele, die hier noch ihren Alltag fristen. Viele Häuser stehen leer und verlassen, die Türen fest verschlossen, und die Weinreben haben sich bereits um die rostigen vergitterten Tore gewunden. In einigen Höfen stehen Granatapfelbäume, deren Früchte längst verfault an den Ästen hängen.

«Und endlich eine Apotheke»

Lili, die ihren Familiennamen nicht sagen will, ist 76 Jahre alt und lebt allein in ihrem Haus. Ihren schwarzen Schal trägt sie stets über den Schultern, als würde er ihr in den kalten Zeiten Schutz bieten. Ihre Rente beträgt 315 Lari, umgerechnet etwa 100 Franken – kaum genug, um die immer höher werdenden Preise für Lebensmittel, Holz und Medikamente zu decken. Sie sagt: «Meine Tochter schickt Geld aus Tbilissi, denn ohne diese kleine Unterstützung kann ich nicht über die Runden kommen.» Lili hält die Versprechen der Opposition, die Rente auf 1000 Lari (317 Franken) zu erhöhen, für lächerlich. «Woher wollen die das Geld nehmen», fragt sie skeptisch, «wenn es nicht mal die Regierung zahlen kann?»

«Zumindest hilft mir die Dorfverwaltung», sagt Lili mit einem Hauch von Erleichterung in der Stimme. «Wenn es einen Stromausfall gibt, schickt jemand Hilfe, und das Problem wird behoben.» Ihre Nachbarin, die schwerfällig näher kommt, stimmt zu. Sie ist überzeugt, dass die Demonstrationen in der Hauptstadt nur für Unruhe sorgen. «Das bringt doch nur Chaos», sagt sie. Ihr Mann sei schwer krank im Bett, und die Last des Alltags liege nun allein auf ihren Schultern. «Drei Schweine stehen im Stall, und auch sie brauchen ihr Futter», sagt sie. Und dann, leise: «Doch der Frieden ist das Wichtigste. Und endlich eine Apotheke im Dorf – das wäre etwas, was wir hier so dringend brauchen, aber nie gesehen haben.» So sieht ihr georgischer Traum aus.