Von oben herab: Der grobe Unterschied
Stefan Gärtner über den Nobelpreis und sein Feierabendbier
Immer öfter ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass ich einfach gar nichts tue. Am Sonntag etwa lag ich nach dem Frühstück, als die Kinder ihren Medialbeschäftigungen nachgingen, noch einmal im Bett und sah aus dem Fenster und genoss den Blick auf die grossen, alten Bäume. Ich fürchte, ich werde deswegen hier auch nie wieder ausziehen, wiewohl ich nach wie vor nicht glaube, dass man Löcher in den Dielen und Wände aus Sand derart teuer vermieten muss. Aber auch vom Balkon aus sehe ich auf Bäume, und dann denke ich: Ich könnte ein Buch lesen. Ich könnte Italienisch lernen. Ich könnte sogar arbeiten! Aber ich will lieber hier sitzen und gar nichts tun, nur zuhören, wie die Zeit vergeht. Ist das faul? Ist das weise?
Der deutsche Wirtschaftsweise Christian Lindner (FDP) sitzt nie auf dem Balkon und sieht «interesselos» (Kant) ins Grüne, denn das gefährdet den Standort Deutschland. Auf dem jüngsten FDP-Parteitag hat er angeregt, man solle auch einmal «über mentalitätspolitische Standortfaktoren sprechen», zum Beispiel darüber, dass sie in der Schweiz viel fleissiger seien. Laut einer in der «SonntagsZeitung» veröffentlichten Statistik, die unter anderem auf Daten der OECD und von Eurostat beruht, arbeitet das Schweizervolk pro Kopf im Leben 12 000 Stunden mehr als das deutsche; nach einer anderen Berechnung ergibt sich ein Unterschied von knapp 200 Stunden im Jahr, wobei ich nicht gefragt worden bin, sonst sähe es für Deutschland noch schwärzer aus.
Paul Lafargue, ein Schwiegersohn von Karl Marx, hat 1883 nicht so bekanntlich das «Recht auf Faulheit» proklamiert und hielt eine Tagesarbeitszeit von drei Stunden im Interesse sowohl der Arbeiterklasse als auch des gesellschaftlichen Friedens für ideal, was ihm der orthodoxe Marxismus sehr übel genommen hat. Die sozialistische Realität, spotten Fans des Standortvorteils, war trotzdem näher an Lafargue als an Marx, und auch in diesem Sinn bin ich Sozialist, wenn ichs kokett ein bisschen zuspitze und meine Care-Arbeit nicht einrechne. Apropos muss ich gleich noch die Wäsche aus der Maschine holen, etwas, was Thomas Mann vermutlich nie gemacht hat, weshalb ich mit dem Nobelpreis auch im Ernst nicht mehr rechne.
Wie ich aus dem Arbeitszimmerfenster wiederum ins Grüne sehe, finde ich, dass das mit dem Nobelpreis eine sehr schöne Abschlusspointe war, und in Faul-Deutschland wäre die Kolumne jetzt beendet. In der Schweiz hingegen muss ich noch 1400 Anschläge drauflegen, und wenn der Kapitalismus überproduziert, produziert er naturgemäss Sachen, die niemand braucht. So müssen Sie jetzt erfahren, dass mir gerade eine alte Freundschaft verloren geht, weil der alte Freund lieber mit mir streitet, als mit mir redet, und wenn er auf den Streit keine Lust mehr hat, schreibt er, ich hätte ja sowieso immer recht, womit er meine Argumente pauschal entwertet und dafür sorgt, dass er selbst immer recht behält. Sagen kann ich ihm das nicht, weil ich dann gleich wieder zu hören kriege, dass ich eh immer recht hätte, und da kommt es mir vor, als hätte das nicht unbedingt eine Zukunft.
Das kann mir bei meinem noch älteren (58) Freund Ruedi nicht passieren, schon weil er gar keine Zeit hat, mit mir zu streiten. Was die wenigsten wissen: Jeder seiner Kolumnen gehen zehn durchformulierte, im Familienkreis vorgetragene Entwürfe voraus, denn den guten Lafargue hält Ruedi, der von seinem Haus den Balkon entfernt hat, «um nicht auf dumme Gedanken zu kommen», für «ein absolutes Arschloch». Wenn ich, leider viel zu selten, bei ihm zu Besuch bin, arbeitet er einfach weiter, und ich sehe ihm zu dabei, sauge an meinem Feierabendbier, das ich mir natürlich selbst aus dem Kühlschrank geholt habe, und weiss, dass man über mentalitätspolitische Unterschiede auch gut einmal hinwegsehen kann.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
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