Von oben herab: Richtig falsch

Nr. 15 –

Stefan Gärtner über Schweizer Werte und Nährwerte

«Perfide» ist ja auch so ein schönes Wort. «Hinterhältig, hinterlistig, tückisch» übersetzt der Fremdwörter-Duden, und als es in Deutschland, trotz Krieg und allem, mal wieder um Hartz IV ging, war meine liberale Frühstückszeitung dagegen, die berüchtigten Sanktionen abzuschaffen: «Es sind wenige Prozent, die nicht daran mitwirken, ohne die Unterstützung des Staates auszukommen. Die Jobs verweigern, einen Sprachkurs, eine Weiterbildung. Soll die Gemeinschaft dies einfach schulterzuckend hinnehmen?» Dieselbe Gemeinschaft, die doch auch Milliardensubventionen für Industrie und Landwirtschaft schulterzuckend hinnimmt? Jeder übermotorisierte Dienstwagen, der das Öl verfeuert, das wir doch Putin nicht mehr abnehmen wollen, wird von meinem Steuergeld kofinanziert, und da soll ich mich über die wenigen Prozent aufregen, die lieber von 500 Euro im Monat leben, als ohne die Unterstützung des Staates auszukommen? Meinen Segen, ihr Guten, habt ihr, anders als ein Journalismus, der bei der Kriminalisierung von Armut halb willfährig, halb aus Klasseninteresse mitwirkt. Vielleicht ist auch «infam» das bessere Wort: niederträchtig.

Für die Verweigerung spricht ja auch, dass es doch ganz leicht ist, mit Kleingeld ein Kind satt zu kriegen, jedenfalls laut einem älteren «Bild»-Bericht: «Drei Euro – das ist der amtliche Satz, mit dem ein Hartz-IV-Empfänger seinem Kind Frühstück, Mittagessen, Abendbrot machen soll. Das kann nur böse enden? Nein. Die Ernährungsexpertin Dagmar von Cramm serviert […] rundum gute Mahlzeiten: vitaminreich, lecker, zum Nachkochen empfohlen. Sogar für unter drei Euro», und Dagmar von Cramm, die einen Hartz-IV-Monatssatz wahrscheinlich beim Friseur lässt, war 2020 gern dabei, die Armen, die wenigstens kein Geld für Springers Dreck übrighaben, bei der Kundschaft als zu faul und zu blöd zum Kochen anzuschmieren.

Berücksichtigen wir das Preisniveau in der teuren Schweiz, sind die acht Stutz Essensgeld, die der Kanton Aargau ukrainischen Geflüchteten pro Tag zur Verfügung stellt, ungefähr so viel wie die drei Euro, die im Grossen Kanton für drei rundum gute Mahlzeiten reichen sollen. «Oder anders gerechnet: 2.65 Franken für eine Hauptmahlzeit», wie die «SonntagsZeitung» zu bedenken gibt, die auch weiss, dass «reguläre Flüchtlinge», die nicht mehr unter die Asylsozialhilfe fallen, deutlich mehr Geld zur Verfügung haben. Wäre ich ein bisschen zynischer, als ich bin, könnte ich sagen: Wie kann man aus Odesa oder Kyjiw nur in die Schweiz flüchten! In ein Land, das zwar ebenfalls Schiss vorm Russen hatte, aber doch keine Rechnung offen; von den fünfzehn Millionen russischen (und acht Millionen ukrainischen) Toten, die die deutsche Führerbegeisterung hinterlassen hat, profitieren jetzt alle, die es nicht nach Aarau oder Zürich, sondern nach Berlin oder Zittau verschlagen hat, denn jetzt ist Russland im Unrecht, und wir sind die Guten und können östliches Pflegepersonal auch sehr gut gebrauchen, und also wird nach Kräften unbürokratisch geregelt, was zu regeln ist. Flüchtling ist das Letzte, was ich sein möchte, aber müsste es sein, dann lieber als ukrainische Mutter denn als afghanischer Vater.

In der Schweiz findet jetzt sogar die SVP, dass 2.65 Franken nicht reichen, jedenfalls nicht für, so etwas gibts, «echte Flüchtlinge», wie Nationalrat Andreas Glarner das nennt, im Hauptberuf eigentlich «Verfechter einer knallharten Migrationspolitik» («SonntagsZeitung»): «Ich habe immer gesagt, dass wir bei richtigen Flüchtlingen dafür sorgen müssen, dass es ihnen hier gut geht.» Womit die anderen Flüchtlinge hinterrücks als falsche gekennzeichnet wären, denen es gar nicht schlecht genug gehen kann. Derweil lese ich statt «Asylsozialhilfe» aus Versehen «Asozialhilfe», und mehr gibt es dazu dann gar nicht zu sagen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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