Von oben herab: Volkes Lieder

Nr. 25 –

Stefan Gärtner hört den Sommerhit

Die Welt ist ja bekanntlich eine durchaus korrupte, und mein lieber Freund Ruedi hat mir eine selbstgebrannte CD mit «tollen Popsongs» geschickt, offiziell, weil er sich freut, dreimal im Monat in meiner Kolumne aufzutauchen, inoffiziell, weil er hofft, dass mir das mit ihm als Sidekick irgendwann zu langweilig wird. Kann er natürlich vergessen.

Es sind, weil Ruedi sich auskennt, schöne Sachen drauf von Bands namens Slowdive, Violens oder Roosevelt, und ich habe lediglich von ABC schon mal was gehört, deren jüngstes Album «The Lexicon of Love II» betitelt ist, und das ist genau mein Ding: die Fortsetzung.

Letztlich interessiere ich mich gar nicht mehr sehr für Neues, sondern nur mehr für Fortsetzungen, das neue Album von X oder Y, und selbst da kaufe ich dann eher aus Gewohnheit und weil ich die schöne Sache «Popmusik» nicht so umstandslos an den Nagel hängen möchte wie die schönen Sachen Fussball, Gras und Flugzeugfliegen. Neulich waren Blumfeld mal wieder in der Stadt, und ich habe viel Zeit mit Überlegungen verbracht wie, ob Distelmeyer vielleicht es bitzeli gekokst hat und wie schön es doch wäre, wenn ein Muskelmann durch die Reihen ginge und den Hobbyfilmern und -filmerinnen das Natelspielzeug entzweibräche.

Ruedi hat es freilich versäumt, mich auf eine Sensation im Schweizer Musikbetrieb aufmerksam zu machen: dass nämlich «079» von Lo & Leduc so lange auf Platz eins der Schweizer Hitparade steht wie noch kein Song vorher und DJ Bobo («Verdamp lang her») und die Minstrels («Grüezi wohl, Frau Stirnimaa») auf die Plätze verwiesen hat. Die «NZZ am Sonntag» raunte schon von «Jahrhundertsong» und «Volkslied» und schilderte halb irritiert, halb begeistert, wie lauthals alle mitsingen: «‹Null, sibe, nüün …›, sage ich der Frau von Electrolux, die mich wegen des Defekts unseres Kühlschranks um eine Rückrufnummer gebeten hat, und sie, die sonst thurgauert, gibt prompt auf Berndeutsch zurück: ‹… het sii gseit.› Am selben Abend johlt unsere Tochter mit Zürcher Studienkolleginnen beim Grillplausch auf dem Balkon unablässig: ‹Gäb sii mir wenigschtens d Vorwahl …› Das Lied ist überall», und das ist ja nun eine feste Regel, dass Lieder, die überall sind, selbst dann nerven, wenn sie etwas taugen, zumal wenn sie den Umstand zementieren, «dass heutzutage jeder lustig sein muss» (D. Schuh, «Titanic»). Vielleicht jogge ich deshalb nicht mehr, weil ichs wohl abends täte und dann Angst hätte, jemand riefe mir «Atemlos durch die Nacht!» entgegen. Die Welt ist doch gedankenlos genug.

Ich wüsste freilich gar nicht, ob ich das überhaupt mitbekäme, dass ein Lied «überall» ist. Popradio höre ich nicht mehr, weil zu dämlich (das Radio, nicht ich!), Sozialmedien habe ich nie genutzt, und unser Kühlschrank, wiewohl uralt, funktioniert bestens. Eben habe ich mir «079» angehört, und ich kann erfreulicherweise sagen, dass der Song mir zwar völlig egal, aber in jedem Fall viel verträglicher ist als das, was in Deutschland zuletzt am Volksliednächsten war, nämlich die faschistischen Fussballturnierhymnen von Zeitgenossen wie Mark Forster oder Andreas Bourani: «Immer da, ohne Rückspiegel / Keine Fragen, einfach mitziehn», oder: «Wir haben Flügel, schwörn uns ewige Treue / Vergolden uns diesen Tag / Ein Leben lang ohne Reue / Vom ersten Schritt bis ins Grab».

Dass diesmal die Schweiz Weltmeister wird, das geht in Ordnung.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.