Zensur in Italien: Das Bellen der Bastarde
Rechte Kampagne gegen kritische Intellektuelle: In Italien versucht die Regierung von Giorgia Meloni, juristisch gegen Linke vorzugehen. Das erinnert an die Methoden im Faschismus.
Vor hundert Jahren, im Juli 1924, wurde von der italienischen Regierung ein Dekret über die Grenzen der Pressefreiheit erlassen: Verwarnt oder vor Gericht gestellt werden sollte, «wer mit falschen oder tendenziösen Behauptungen die diplomatische Tätigkeit der Regierung behindert»; auch Äusserungen, die «dem nationalen Ansehen schaden» oder «die öffentliche Ordnung stören», wurden verboten.
Damals hiess der Vorsitzende des Ministerrats Benito Mussolini – heute bekleidet Giorgia Meloni dieses Amt. Und obwohl das Dekret von 1924 längst nicht mehr gilt, scheint nicht nur sie entschlossen, gegen «Störungen der öffentlichen Ordnung» mit Methoden des frühen Faschismus vorzugehen, sondern auch weitere Exponent:innen des rechten Lagers.
«Wie ein Gauleiter»
Das bekommen aktuell auch viele Prominente zu spüren, unter ihnen etwa der neapolitanische Journalist und Autor Roberto Saviano, der seit Jahren zu Mafia und Wirtschaftskriminalität recherchiert. «Bastarde» nannte er Meloni und Matteo Salvini von der Lega während einer Fernsehsendung; Anlass war der Tod eines Kindes auf einem Flüchtlingsschiff, für den Saviano die mörderische Antimigrationspolitik der rechten Parteien mitverantwortlich machte. Dafür wurde er zu einer eher symbolischen Geldbusse von tausend Euro verurteilt. Zur Teilnahme an Fernsehdiskussionen der öffentlich-rechtlichen Rai wird er seitdem nicht mehr eingeladen.
Während Saviano als Bestsellerautor in diversen Ländern wohl auch weiterhin von der Weltöffentlichkeit gehört werden wird, dürfte es für die Philosophin Donatella Di Cesare schwieriger werden, ein breites Publikum zu erreichen. Ihr neustes Buch trägt den Titel «Democrazia e anarchia», eine Würdigung der Demokratie als Schutz der «Namenlosen», die «nicht kommandieren und nicht kommandiert werden wollen». Am 15. Mai muss sie sich vor Gericht verantworten: Angezeigt wurde sie von Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, Melonis Schwager und Parteifreund bei den neofaschistischen Fratelli d’Italia, einem Hardliner und Anhänger des Verschwörungsmythos des «Bevölkerungsaustauschs», über den er am 18. April 2023 öffentlich schwadronierte.
Am selben Abend wies Donatella Di Cesare in einer Talkshow diese rechtsextreme Vorstellung als «Herzstück des Hitlerismus» zurück und fügte hinzu: «Ich glaube, dass die Worte des Ministers nicht als Ausrutscher betrachtet werden können, denn er hat wie ein Gauleiter, wie ein neohitlerianischer Statthalter gesprochen.» Lollobrigida fühlte sich dadurch beleidigt und reichte Klage ein: Er sei als Nazi bezeichnet worden. Die Beklagte dagegen legt Wert auf sprachliche Genauigkeit – sie habe Lollobrigida vorgeworfen, er habe wie ein NS-Gauleiter gesprochen. Das müsste, ein rechtsstaatliches Verfahren vorausgesetzt, vom Gericht zu ihren Gunsten ausgelegt werden.
Angesichts des herrschenden politischen Drucks auf die Justiz ist das aber alles andere als sicher, zumal Di Cesare kürzlich erneut das rechte Lager gegen sich aufbrachte. Anlass war ein Tweet zum Tod der ehemaligen Rotbrigadistin Barbara Balzerani, die 1985 laut eigenem Geständnis für die Ermordung des Florentiner Bürgermeisters Lando Conti verantwortlich war. Di Cesares posthumer Gruss an die Anfang März Verstorbene bestand aus drei knappen Sätzen: «Deine Revolution war auch meine. Die unterschiedlichen Wege löschen die Ideen nicht aus. Schweren Herzens ein Abschiedsgruss an die Genossin Luna.» Auf den Sturm der Entrüstung bis weit in die Mitte hinein folgte Di Cesares – eigentlich überflüssige – Klarstellung, sie sei schon immer gegen Gewalt und Terrorismus gewesen.
Den Chor der Empörten konnte sie damit nicht zum Schweigen bringen. Rechte Politiker:innen forderten ihre Entlassung, die Vorsitzende der Fakultät für Literatur und Philosophie der Universität La Sapienza in Rom, wo Di Cesare lehrt, ging auf Distanz. An der Kampagne gegen die kritische Wissenschaftlerin waren auch Mitglieder der Jugendorganisation von Forza Italia beteiligt, die ihre Vorlesung über Walter Benjamin störten. Auch das erinnert an die frühen 1920er Jahre, als Mussolinis Sturmtrupps nicht nur gewaltsam gegen die Arbeiter:innenbewegung, sondern auch gegen antifaschistische Intellektuelle vorgingen.
In einem Interview mit «Zeit Online» warnte Di Cesare kürzlich vor einer «Orbanisierung» Italiens. Gerichtsverfahren gegen kritische Intellektuelle schadeten der Demokratie und der Öffentlichkeit. Es handle sich um Einschüchterungsversuche, um ein «Zeichen an andere, solche Themen besser nicht zu berühren. Und das führt im schlimmsten Fall zur Selbstzensur.»
Das Gespenst des Faschismus
Mitunter haben die rechten Einschüchterungsversuche aber auch den gegenteiligen Effekt. Das zeigt der Fall von Di Cesares Kollegen, dem Philosophen Luciano Canfora. «Bisher war er bekannt, jetzt ist er berühmt», freute sich die linke Tageszeitung «il manifesto». Zu verdanken hat er das Giorgia Meloni, die sich ein weiteres Mal beleidigt fühlte. «Neonazi im Geiste» hatte Canfora sie im April 2022 bei einer Veranstaltung mit Schüler:innen genannt. Dafür will die Beleidigte 20 000 Euro Schmerzensgeld einklagen; Anfang Oktober soll der Prozess beginnen.
Auch angesichts internationaler Solidaritätsbekundungen sieht Canfora dem Verfahren gelassen entgegen. Dem Gericht will er einen Stapel von Dokumenten vorlegen, die seine These belegen: mit einschlägigen Aussagen Melonis und ihrer politischen Mentoren, an erster Stelle Giorgio Almirante, 1944 Propagandist der antisemitischen «Rassengesetze» und nach Kriegsende langjähriger Präsident des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI).
Einen Bumerangeffekt hatte kürzlich auch der Versuch rechter Kader des TV-Senders Rai 3, den Journalisten Antonio Scurati mundtot zu machen. Dessen geplanter Kommentar im Vorfeld zum 25. April, dem Jahrestag zur Befreiung vom Nazifaschismus, wurde kurzerhand aus dem Programm genommen. Scuratis Anknüpfungspunkte für scharfe Kritik an der Meloni-Regierung waren einerseits der 100. Jahrestag der Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti durch ein faschistisches Kommando mit direktem Kontakt zu Mussolini, andererseits die Massaker deutscher Besatzer und italienischer Faschisten an der Zivilbevölkerung 1944. Die heute regierenden «Postfaschist:innen» hätten zwei Möglichkeiten: Sie könnten «sich von ihrer faschistischen Vergangenheit lossagen oder die Vergangenheit umschreiben». Da sie sich offensichtlich für Letzteres entschieden hätten, werde «das Gespenst des Faschismus weiterhin das Haus der italienischen Demokratie heimsuchen».
Im Fernsehen verlesen wurden diese bitteren Wahrheiten dann doch – nicht von Scurati, sondern von einer Moderatorin des Senders. Meloni derweil veröffentlichte den inkriminierten Text auf Facebook, verbunden mit dem weinerlichen Bekenntnis, sie wisse nicht, wer im Streit recht habe; sie sei ausserdem – als häufiges Opfer davon – gegen jede Art von Zensur. Zeitungen im In- und Ausland dokumentierten Scuratis Text, und auf der grossen Mailänder Demo am 25. April trug der Autor ihn persönlich den 100 000 Antifaschist:innen vor.
Kritische Gegenöffentlichkeit
Auch Scuratis Kollegin Nadia Terranova berichtet von Zensurerfahrungen. In einem bei ihr ebenfalls von Rai 3 bestellten Kommentar wollte sie das Thema Hybris am brutalen Vorgehen der Staatsmacht gegen die aktuellen Proteste Studierender, die in Pisa für einen Waffenstillstand in Gaza auf die Strasse gegangen waren, veranschaulichen. Worauf die zuständige Redaktion Terranova aufforderte, doch lieber ein anderes Thema zu wählen. Sie verzichtete und machte den Fall öffentlich.
Daran zeigt sich, dass es der regierenden Rechten und ihren Sympathisant:innen an den Schaltstellen der Medienmacht nicht nur um das geht, was Antonio Gramsci «kulturelle Hegemonie» nannte. Denn die Sanktionen gegen prominente Einzelpersonen treffen indirekt auch die vielen, die gegen Rassismus und Repression, für Klimagerechtigkeit und Frieden auf die Strasse gehen oder Schulen besetzen. Sie sind auf Gegenöffentlichkeit und die Solidarität kritischer Intellektueller angewiesen.
Entfällt diese Unterstützung, weil sich Bündnispartner:innen eingeschüchtert zurückziehen, könnte in Italien das Realität werden, was Donatella Di Cesare als Melonis Ziel ausgemacht hat: «eine dritte Republik mit starken autokratischen Zügen». Der früher geläufige Fachbegriff für die planmässige autoritäre Umgestaltung von Staat und Gesellschaft war: Faschisierung.