Ein Traum der Welt: Im Wald versteckt

Nr. 20 –

Annette Hug will etwas tun

Die Anweisungen sind mit «forstlichen Grüssen» unterschrieben. Es geht um die Klimaerwärmung. In einem Waldstück im Jura, das 2022 von einer Sturmbö rasiert wurde, sind jetzt vier rechteckige Flächen auszumachen: Jede der vier Flächen ist als «site expérimental» angeschrieben und enthält fünf mal fünf Gitterhüte, die Sämlinge beschützen.

Ein mir sehr nahestehender Mann, dem die AHV und Pensionskassenrenten ein Mindesteinkommen garantieren, nimmt an einem europaweiten wissenschaftlichen Projekt teil. Das wirkt sich auf die Sprache dieser Kolumne aus: Ich muss exakt sein und die korrekte Terminologie verwenden. Dabei bin ich nur Hilfskraft. Die Sämlinge sollten jede Woche besichtigt werden, auf einer englischsprachigen App sind die Beobachtungen einzugeben.

Nach einem Muster, das ich noch nicht durchschaue, muss man auch Fotos machen. Auf Knien zwischen den Gitterhüten durchzuschauen, um unter dem Blätterdach des hochgeschossenen Bärlauchs Triebe zu erkennen und einer Wachstumsstufe zuzuordnen, ist eine seltsame Tätigkeit. Man verwandelt sich in ein technisch denkendes Kriechtier, wird aber gedanklich in ferne Gegenden versetzt. Zu beobachten sind: Abies alba und Fagus sylvatica aus den rumänischen Karpaten, der Basilicata, dem französischen Zentralmassiv und Graubünden.

Das Projekt findet an rund 500 Orten in Europa statt, überall wurden Samen von Weisstannen und Buchen gesetzt, überall kriechen jetzt wöchentlich Laienforscher:innen von Sämling zu Sämling, man erhofft sich Aufschlüsse, welche Bäume besonders gut anwachsen. Wie könnte der Wald, zum Beispiel im Jura, die zunehmende Hitze und den Wassermangel aushalten?

Das Projekt ist perfekt für Menschen mit einem garantierten Mindesteinkommen, zu denen ich nicht gehöre. Eigentlich hätte ich für das zeitraubende Abzählen von Keimlingen keine Zeit. Es nervt, wenn Knäuel von Trieben im schräg einfallenden Licht durchs Gitter hindurch nicht auseinanderzuhalten sind. Trotzdem ist die wissenschaftliche Versuchsanlage anziehend: Sie reduziert Komplexität.

Die Fragen sind so gestellt, dass sie eindeutig zu beantworten sind, wenn ich einmal davon absehe, dass das rasierte Waldstück nicht auf ein europäisches Projekt gewartet hat, um sich in blühenden Busch zu verwandeln. Da macht sich Weissdorn breit, wie aus dem Nichts übernehmen Goldnesseln den Waldboden, ziehen Bienen an, die sich auch an Bärlauch und Vergissmeinnicht verköstigen – die AHV und die Pensionskassen finanzieren nämlich auch die Bienenzucht –, der nachwachsende Wald ist ein brummendes Wunder, da sind die Keimlinge der karpatischen schlecht von wild wachsenden, einheimischen Buchen zu unterscheiden.

Nichtsdestotrotz: Der Fokus ist klar. Benannt wird ein klar definiertes Wachstumsstadium. Das ist erholsam, wenn man es nicht schafft, in dieser Kolumne über die befürchtete Invasion der israelischen Armee in Rafah zu schreiben, über diesen Krieg, der doch im Alltag so viele Gespräche prägt, die aber schnell entgleisen, weil man sich nicht auf Begriffe einigt, die zu verwenden oder nicht zu verwenden sind, und nur schon die Frage, ob ein Sachverhalt ganz einfach oder sehr komplex sei, kann für einen Gesprächsabbruch sorgen.

Ich hätte auch hundertmal «Waffenstillstand jetzt!» schreiben können.

Annette Hug ist Autorin in Zürich. Im Jura hilft sie manchmal bei einem Projekt aus, das «My Garden of Trees» heisst und von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) geführt wird.