Nemos Sieg am ESC: Ja, es wird noch weiter gehen
Fortschritt ist zerbrechlich und ein dritter Geschlechtseintrag ein gutschweizerischer Kompromiss, schreibt Autor Robin Adrien Schwarz. Ein Auftakt zur queeren Befreiung.
Mit Nemo hat nicht nur eine nonbinäre Person den Eurovision Song Contest gewonnen, sondern auch noch eine, die es zu fortgeschrittener Stunde an diesem Samstag trotz Kontroversen um den ganzen Event schaffte, eine luzide politische Forderung direkt an den Bundesrat zu stellen: Der inakzeptable Umstand, dass es in der Schweiz keinen dritten Geschlechtseintrag gebe, sei zu beheben.
So manche reaktionäre Stimme ist seitdem auf einer ganz heissen Spur: Ist der als unpolitisch propagierte ESC am Ende doch auch eine politische Veranstaltung? Und: Heisst das, das alles geht jetzt noch weiter? Ja, es geht noch weiter. Und nein, es hat nichts mit einer sinistren satanistischen «Queer-Theory-Agenda» zu tun, wie mancherorts zu lesen war, nachdem Bambie Thug (Irland), ebenfalls nonbinär, Nemo zum Sieg die Dornenkrone aus der eigenen, okkult durchgestylten Performance aufgesetzt hatte. Nein, für so einen Spass wäre die Schweiz zu langweilig.
Gar nicht so radikal
Überhaupt ist das, was sich jetzt gesellschaftlich und politisch bewegt, gar nicht so radikal – oder gar «Gender-Extremismus», wie etwa FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann zwei Tage vor dem ersten Halbfinale auf X schrieb (dann aber Nemo nach dem Sieg fast überschwänglich gratulierte, als wäre nie etwas gewesen). Ein drittes Geschlecht (und die Möglichkeit, den Eintrag ganz wegzulassen) ist ein gutschweizerischer Kompromiss ganz im Sinne des stets beschworenen liberalen und humanitären Geistes unseres Landes. Andere Nationen können das, mit Abstrichen, bereits, etwa unsere Nachbarn Deutschland und Österreich oder auch Malta und Island. Warum also nicht wir?
Aber: Fortschritt ist, wie immer, zerbrechlich und nicht garantiert. Gerade in der heutigen Zeit. Und, wie es Liedermacher Hannes Wittmer formuliert: «Vorwärts ist keine Richtung», nein, vorwärts ist eine Vielzahl an Richtungen, Fortschritt ist kontingent.
Ein Celebritybesuch beim Bundesrat und eine 10 000 Unterschriften starke Petition sind schön und wichtig (ich gehöre zu den ersten 100 Unterzeichner:innen), aber das muss unbedingt als Auftakt, nicht als Endpunkt queerer Befreiung verstanden werden – und auf keinen Fall dürfen sich diese Forderung und die Bewegung, die mit ihr kommt, von neoliberaler Schönfärberei und Profitmacherei einlullen lassen. Denn die Attacken, manchmal subtil, verdeckt und kaum zu erkennen, kommen nicht immer nur von rechts. Und Emanzipation geschieht nicht alleine durch das Cüpli mit der Regierung. Sie fordert harte politische Arbeit – und wird naturgemäss von Fragen und Zweifeln begleitet.
Die Chance, die Nemo offeriert
Eine queere Person sagte mir einen Tag nach Nemos Sieg: Will ich mich als marginalisierte Person wirklich offiziell als marginalisiert eintragen lassen, gerade in einer Zeit des erstarkenden Faschismus? Birgt das nicht sehr offensichtliche Risiken? Ich verstehe diese Angst. Auch ich selbst frage mich: Kann das queere Unbehagen mit Kategorien durch das Schaffen einer weiteren Kategorie – einer, die eine heterogene Community zu einem grossen Ganzen macht – tatsächlich gelöst werden? Macht das das Abbauen, das Dekonstruieren des kategorialen Systems, von dem wir uns doch lösen möchten, nicht eventuell sogar schwieriger? Laufen wir Gefahr, am Ende, wie Michel Foucault befürchtete, dieselben Systeme zu reproduzieren, aus denen wir ausbrechen wollen? Droht uns, dass wir neue Identitätskategorien essenzialisieren? Schliesslich schrieb auch Jacques Derrida, Identität sei nie «gegeben, empfangen oder erlangt: Nur der endlose und ewig phantasmatische Prozess der Identifikation bleibt.»
Das sind Fragen, die wir laufend neu verhandeln müssen. Dabei ist auch den Zweifeln Platz zu geben. Doch sie sollen uns nicht davon abhalten, nun jene politische Chance zu packen, die Nemo uns offeriert. Bei all dem diffusen Weltschmerz, all dem Zwiespalt und Misstrauen dürfen wir nicht vergessen, zu sehen, was gerade jetzt vor uns liegt.
Je akzeptierter nicht heteronormative Genderidentitäten und -ausdrücke werden, desto mehr zerfliessen die Kategorien, desto mehr erodiert ihre Relevanz. Das bedeutet für mich übrigens nicht, dass es keine klassisch maskulinen oder femininen Genderausdrücke mehr geben soll oder wird, sondern schlicht, dass ihnen dereinst keine essenzialistische Aussagekraft mehr beigemessen wird.
Einst führten Protestant:innen und Katholik:innen Krieg. Lange war der Konfessionseintrag von grosser Relevanz für allerlei soziale Begebenheiten. Und heute? Heute fragen mich nur noch Formulare danach.