Eurovision Song Contest: Regnet es bald Läckerli vom Himmel?

Nr. 19 –

Die WOZ-Redaktion beantwortet die drängendsten Fragen rund um den grössten Grossevent des Jahres.

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das Maskottchen «Lumo» des ESC 2025
Lumo, das Maskottchen des Basler ESC. Foto: Georgios Kefalas, Keystone

Hat Basel den längsten Teppich?

Ja! Basel hat nämlich den «längsten Turquoise Carpet der ESC-Geschichte» verlegt. So vermeldete das die kantonale Promotionsabteilung, die für die ESC-Woche aus dem Vollen schöpft. 1,3 Kilometer lang ist dieser Teppich, eingefärbt im leuchtenden Türkis des israelischen ESC-Hauptsponsors Moroccanoil. 

Auf dem Teppich sollen die Delegationen an der Eröffnungszeremonie vom Marktplatz zum «Eurovision Village» in der Messe paradieren. Dabei werden sie von allem begleitet, was Basel an Baslerischem zu bieten hat. Man holt Oldtimertrams aus den Depots, Trommler:innen und Fasnachtscliquen säumen den Weg. Sollte es während der Parade vom Himmel Läckerli regnen, würde auch das niemanden überraschen.

Geworben wird auch mit dem Rahmenprogramm. Es gibt einen Funk Day, einen Jazz Day und einen Diversity Day. Es gab schon «die grösste Ü60-Party aller Zeiten» und eine Disco für Menschen mit Hörbeeinträchtigung, «powered by Novartis». Deren CEO Vas Narasimhan, eben von einem Termin bei Donald Trump zurückgejettet, weihte am Dienstag mit Regierungspräsident Conradin Cramer einen neuen «Basel»-Schriftzug am Rheinufer ein, auf dem das Logo von Novartis prangt.

Natürlich wird auch die Nachhaltigkeit nicht vergessen. So soll es im Village Veggieburger geben und rezyklierbare Deko. Darüber hinaus hat man an die verbreiteten blauen Abfallcontainer zwei Säcke für Glas und Papier geklebt. Es wurde wirklich an alles gedacht. Auch der Teppich soll später in einem mit geerbtem Pharmageld betriebenen Kulturhaus eine neue Verwendung finden. Aber nur, wenn er in gutem Zustand bleibt – was wiederum propalästinensische Aktivist:innen verhindern wollen. 


Wieso singt Australien mit?

Weil der ESC zwar Europa im Namen hat, aber grösser denkt – sich also eher an Marketingfragen als an Kontinentgrenzen orientiert. Heisst: In Australien wird der Anlass schon länger übertragen und erfreut sich offenbar grosser Beliebtheit. Die Entscheidung fällt die Europäische Rundfunkunion (EBU), der etwa auch das ägyptische Staatsfernsehen angehört. Australiens ABC ist seit 1950 assoziiertes Mitglied. Den ersten Songcontest trug die EBU übrigens 1956 in Lugano aus, sieben Länder nahmen teil. Australien nicht.


Passt die Welt in drei Minuten?

Als Medienphänomen ist dieser Liederwettbewerb ja ein totaler Anachronismus: eine gross angerichtete Fernsehshow, live übertragen am Samstagabend, gleichzeitig mitverfolgt von über 150 Millionen Menschen. Der bombastische Zirkus soll ein Gefühl der Zugehörigkeit in die europäischen Wohnzimmer schicken. Und dafür stehen eben jeweils drei Minuten zur Verfügung, so lange dürfen die Songs höchstens sein. Es ist also nicht ganz überraschend, dass die Beiträge gern auf übergrosse Gesten und Gefühle setzen.

Der typische ESC-Song orientiert sich eher am allgemeinen als am popmusikalischen Zeitgeist. Nemos Sieger:innensong «The Code» stach da als überraschend versiert heraus, stilistisch verschachtelt, mit Stimmtechniken von Rap bis Oper. Aber die Musik ist am ESC immer nur so weit wichtig, wie sie der Geschichte dient. Bei Nemo war das ein ganzes Geschlechterdrama, bestechend eingefangen in einem Tanz auf einer schlingernden Scheibe.

Was tun diesjährige Favorit:innen? Österreich hat gut zugeschaut bei Nemo, der androgyne Countertenor JJ geht mit einer etwas dunkleren Kopie ins Rennen. Für Schweden versuchen KAJ, ein folkloristisch angeheitertes Europa in der Sauna zu versammeln. Und die israelische Sängerin Yuval Raphael signalisiert Zusammenhalt durch Mehrsprachigkeit, sie singt auf Englisch, Französisch und Hebräisch. Wie wir wissen, erzählt das Fernsehen nicht nur wahre Geschichten. 


Wie wurde der ESC zum queeren Fest?

Die Historikerin Catherine Baker beschreibt den ESC mehrfach als einen Event, der immer schon in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um queere Identitäten eingebettet gewesen sei. Glamour, Kitsch, Drag und Queerness: Der ESC – auch «Gay Christmas» genannt – war schon früh wichtig für queere Communitys. Etwa als Jean-Claude Pascal 1961 «Nous les amoureux» sang, ein Lied, das später mitunter als Protestsong der Schwulenbewegung interpretiert wurde. Ab den siebziger Jahren hätten sich schwule ESC-Fans zusammengeschlossen, «ungesehen von der heteronormativen Welt», schreibt Baker. Sein Coming-out habe der Wettbewerb dann in den «queeren neunziger Jahren» gehabt: 1997 trat mit Páll Óskar der erste offen schwule Teilnehmer an, 1998 entschied Dana International, die erste trans Künstlerin, die am ESC teilnahm, auch gleich den Wettbewerb für sich.

Auch in den Jahren danach verhalf der ESC queeren Identitäten immer wieder zu mehr Sichtbarkeit: 2014 holte sich die Dragqueen Conchita Wurst den Pokal, 2021 waren mehr als die Hälfte der Teilnehmer:innen queer, letztes Jahr schwenkte Nemo die Flagge der nonbinären Community. Doch es ist eben auch der ESC, der einseitig die Grenzen queerer Performances festlegen kann: Dieses Jahr dürfen sich die Künstler:innen wieder nur in ihren Landesfarben zeigen – sonst droht die Disqualifizierung.


Wer schützt vor der Basler Polizei?

Steht Basel im Rampenlicht, verfallen die Stadt und ihre Behörden jeweils in grösste Nervosität. Ganz besonders gilt das für die Polizei, die bei internationalen Anlässen auf jede Störung des Betriebs empfindlich reagiert. Der Grosseinsatz ist das Mittel der Wahl. So war es wiederholt bei der Kunstmesse Art Basel, wenn sich Aktivist:innen oder Künstler:innen auf dem Messeplatz zur globalen Schickeria gesellten, um auf Gentrifizierung oder die Versammlungsfreiheit hinzuweisen – und subito niedergeschrotet wurden.

Derzeit befindet sich die Basler Kantonspolizei allerdings in einer Sinnkrise (siehe WOZ Nr. 26/24), zudem haben viele unnötige Grossaufgebote das Korps ausgelaugt. Trotzdem wird die Polizeipräsenz am ESC erdrückend sein. 1300 Polizist:innen aus der ganzen Schweiz sind angekündigt, auch Militär und Bundespolizei schicken Personal. Zusätzlich wird das ganze ESC-Territorium rund um die Uhr videoüberwacht. Das könnte an Massnahmen ausreichen, um die Basler Polizei unter Kontrolle zu halten.  


Hilft der ESC gegen die Halbierung?

Wenn ein SVP-Mitglied das Schweizer Fernsehen einschaltet, sieht es rot. Zumindest wenn man dem Argumentarium der «Halbierungsinitiative» glaubt, mit der die Partei die Gebühren der SRG auf 200 Franken jährlich beschränken will: «Die Themen Feminismus, Gender, Internationalismus, Klimawandel, Opferideologie und Ausbau des Sozialstaates wurden zu Leitplanken, denen die journalistische Tätigkeit zwangsläufig zu folgen hat», heisst es darin über das Programm der SRG.

Dass der Eurovision Song Contest mit seiner Zelebrierung fluider Geschlechternormen und des transkontinentalen Zusammenhalts an diesem Eindruck etwas ändern wird, ist kaum anzunehmen. Das chancenlose Referendum gegen die öffentliche Finanzierung der Austragung in Basel überliess die SVP dann aber doch lieber den religiösen Fanatiker:innen der EDU, die immer mehr «okkulte und satanistische Botschaften» am Singwettbewerb bemerkt haben wollten.

Dass die Bühne für einmal in Basel und nicht in Zürich stehen wird, war alleweil ein geschickter föderalistischer Entscheid der SRG-Chefetage. Wie der ESC überhaupt die einmalige Chance bietet, die Stimmberechtigten davon zu überzeugen, dass es die SRG nicht nur für die Übertragung der Bundesratswahlen und des Lauberhornrennens braucht, sondern auch für die Unterhaltung. Zu befürchten ist allerdings das gewohnte Zusammenkleistern aller möglichen Schweizstereotype: In den Ankündigungsvideos vermischen sich schon Techno- mit Jodelklängen, und die Bühne steht in einem digitalen Alpenraum. Manchmal sind sich SVP und SRG in ihrer Heimattümelei doch ähnlicher, als beiden lieb sein kann. 


Darf man unter Flaggen tanzen?

Kein anderer Tuchstoff als die Nationalflagge – juristisch ist der Fall dieses Jahr klar, politisch ist die Sache komplizierter. Manche linke Stimmen warnen bekanntlich davor, das nationale Projekt ganz der Rechten zu überlassen. Kommt auch auf das Projekt an, lautet die einfache Entgegnung. Die Schweizer Flagge ist jedenfalls ein Kreuz, und das sollte niemand tragen. 


Wer boykottiert wen?

Erstmals protestierte 1964 ein dänischer Aktivist in Kopenhagen mit einem Schild gegen die Teilnahme der damals von Diktaturen regierten Länder Portugal und Spanien am Gesangswettbewerb. Griechenland boykottierte den Anlass 1975 wegen der Türkei; Russland nahm 2017 nicht am ESC in Kyjiw teil – sonst aber geht es bei der Boykottfrage fast nur um Israel, seit es 1973 erstmals am ESC teilnahm.

Schon damals, ein Jahr nach der Ermordung von elf Israelis durch palästinensische Terroristen in München, brauchte die Sängerin Ilanit Polizeischutz. Ebenso zwei Jahre später der israelische Sänger in Stockholm. 1977 boykottierte Tunesien wegen Israels Beteiligung den Anlass. 1979, als der ESC in Jerusalem stattfand, verzichtete die Türkei.

2019, als der ESC abermals nach Israel reiste, schlossen sich zahlreiche Menschen in Europa Aufrufen der Palästinensischen Kampagne für akademischen und kulturellen Boykott von Israel und der BDS-Bewegung (Boykott, Deinvestitionen, Sanktionen) an. Letztes Jahr in Malmö, ein halbes Jahr nach dem Massaker der Hamas und dem Beginn der verheerenden Offensive der israelischen Armee, wurden die Boykottforderungen noch lauter. Trat Sängerin Eden Golan als quasioffizielle Vertreterin ihres Staates auf? In erster Linie doch eher als Künstlerin – die im Vorfeld des ESC Morddrohungen erhielt.

Damals wie heute begründen BDS und Mitstreiter:innen ihre Forderung unter anderem mit dem Verweis auf Russland, das 2022 nach Beginn der Vollinvasion der Ukraine ausgeschlossen wurde. Bis dahin jedoch war Russlands Teilnahme trotz des bereits seit 2014 laufenden Angriffskriegs kaum umstritten.

Vergangenen Dienstag hat BDS Schweiz zwei von über hundert Schweizer Kulturschaffenden unterzeichnete Petitionen veröffentlicht. Die eine fordert von der European Broadcasting Union den Ausschluss des israelischen Rundfunks Kan, die zweite von der SRG, sich für einen Ausschluss Israels einzusetzen. Ob den Unterzeichnenden bewusst ist, auf wen sie sich einlassen? So berechtigt Protest gegen die israelische Regierung ist, die das Völkerrecht verletzt – die BDS ist nicht dafür bekannt, sich glaubwürdig von antisemitischen Gruppen abzugrenzen. 2018 war im Logo der BDS-Gegenveranstaltung «Globalvision» der ESC-Schriftzug mit Stacheldraht und einer SS-Rune versehen. 


Und das Verhältnis zwischen Ost und West?

Anfangs ging es bloss um die Technik: Liess sich ein gemeinsames TV-Programm simultan in verschiedene Länder übertragen? Schnell aber wurde der ESC zum Seismografen gesellschaftspolitischer Stimmungen – dies umso mehr, als in jener Zeit der Eiserne Vorhang den Kontinent teilte.

Während des Kalten Krieges durften bloss die westlichen Staaten am Wettbewerb teilnehmen, nicht aber jene des «Ostblocks». Also gründeten diese kurzerhand eine eigene Version: den Intervision Song Contest, der zwischen 1960 und 1980 in zwei Etappen in der Tschechoslowakei und in Polen stattfand. Ein wirkmächtiges Symbol für den Ausbruch aus den zwei getrennten Popwelten war der Auftritt des Tschechoslowaken Karel Gott, der 1968 erst den Intervision gewann und dann – als Vertreter Österreichs – auch den ESC. Sein Song «Tausend Fenster» galt vielen als Unterstützung des Prager Frühlings, der nur wenige Monate später von der Sowjetunion gewaltsam niedergeschlagen wurde. Sein endgültiges Ende nahm der Intervision 1981, als in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs traten die Länder des Warschauer Pakts dem ESC bei, ein paar Jahre später wurden die östlichen Vertreter mit den Nachfolgestaaten Jugoslawiens noch zahlreicher. Deren Siege hätten in der westeuropäischen Öffentlichkeit Ressentiments geschürt, schreibt der Historiker Dean Vuletic – historische Stereotype vom «rückständigen Osten», aber auch Ängste, die mit EU-Osterweiterung und entsprechenden Migrationsbewegungen zusammengehangen hätten. Ein anderes Bild ergibt sich in den ehemals kommunistischen Ländern: Für viele dort gilt die Teilnahme am ESC als Manifestation der eigenen europäischen Identität. 

Grafik des ESC-2025-Maskottchen «Lumo»
Lumo, das Maskottchen für den ESC 2025 in Basel. Bild: SRG SSR