Paco Ignacio Taibo: Ein heterodoxer Anarchist

Nr. 21 –

Mexikos bekanntester Krimiautor ist unter dem linkspopulistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zum Kulturmanager aufgestiegen. Für die anstehenden Wahlen gibt er sich optimistisch.

Paco Ignacio Taibo
Seine Held:innen kämpfen immer gegen die Staatsmacht: Paco Ignacio Taibo 2023 bei einer Rede an der Autonomen Universität des Bundesstaats México.    Foto: Arturo Hernandez, Getty

Die Szene könnte einem seiner Romane entstammen: Der 75-jährige Schriftsteller Paco Ignacio Taibo sitzt in einem labbrig gewordenen T-Shirt der spanischen Gewerkschaft Comisiones Obreras auf dem Beifahrersitz eines Autos und hat sich eine Zigarette in den Mund gesteckt. Der Fahrer, ein adrett gekleideter Herr, ebenfalls um die siebzig, kurbelt missmutig das Fenster herunter.

Während im Wageninneren Qualm aufsteigt, erörtern die beiden den Niedergang der kubanischen Buchmesse. Wegen der Wirtschaftskrise gibt es kaum noch Bücher zu kaufen. Als sich der Schriftsteller die fünfte Zigarette ansteckt, macht der Fahrer doch noch eine vorsichtige Bemerkung: So viel zu rauchen, sei aber nicht gesund. Doch dabei belässt er es. Was soll er tun? Der Kunde ist König.

Die beiden Männer stehen für zwei Schulen der lateinamerikanischen Linken. Der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo kommt aus der 68er-Bewegung und wurde international berühmt, weil er das Krimigenre mit anarchistischem Humor neu erfand und mit dem zapatistischen Subcomandante Marcos vierhändig einen Roman schrieb. Der leidgeplagte Fahrer hingegen, der seinen Namen ungenannt wissen möchte, ist ein glühender Anhänger Fidel Castros und hochrangiger kubanischer General im Ruhestand. Eigentlich gehört er zur Nomenklatura des sozialistischen Staates, doch weil in der kubanischen Wirtschaftskrise auch die vermeintlichen Systemeliten nichts zu lachen haben, muss er sich mit Taxifahren etwas zur Rente hinzuverdienen.

Weder Alkohol noch Kaffee

In der Pension, in der Paco Ignacio Taibo abgestiegen ist, geht es dann aber weniger um die Krise auf Kuba als um mexikanische Innenpolitik. Taibo leitet im Auftrag des Staatspräsidenten den wohl wichtigsten Kulturfonds des Landes, den Fondo de Cultura Económica. Auf die Rolle als Kulturmanager angesprochen, gibt er sich aufgeräumt. An seiner Haltung habe das wenig geändert. «Ich mache die Arbeit genau so, wie ich früher das alternative Literaturfestival in Gijón organisiert habe. Oder wie ich in politischen Bewegungen aktiv bin.» Der schnauzbärtige Brillenträger greift ausnahmsweise nicht zur Zigarettenpackung, sondern zu seiner Coladose. Es ist das zweite grosse Laster, dem der Mexikaner frönt. «Ich trinke weder Alkohol noch Kaffee. Die Cola brauche ich, um den Koffein- und Zuckerpegel zu halten.»

Diese Energie ist unabdinglich, denn Taibo ist eine Arbeitsmaschine. An die hundert Bücher hat er seit 1976 geschrieben – Krimis, wissenschaftliche Studien, Abenteuerromane, Essays. Allein seine Biografie über Che Guevara ist 830 Seiten dick. Weil die Grenzen zwischen politischem Aktivismus, Literatur und Forschung bei ihm immer fliessend gewesen sind, arbeiten Taibos Helden in erster Linie gegen die Staatsmacht. Privatdetektiv Hector Belascoarán Shayne, dessen Fälle 2022 sehenswert für Netflix verfilmt wurden, hat meistens mit korrupten Polizisten zu tun. Und in Taibos wahrscheinlich berühmtestem Roman, «Vier Hände», geben sich unter anderen die CIA, Leo Trotzki, der Entfesselungskünstler Houdini und Stan Laurel vom US-Komikerduo Laurel und Hardy die Klinke in die Hand.

Mittlerweile jedoch widmet der Schriftsteller seine Energie der grossen Politik. «Mit dem Fondo geben wir jährlich 500 Titel heraus», erzählt er über den von ihm geleiteten Verlag. «Wir unterhalten ein Netzwerk von hundert Buchläden, organisieren kleine Buchmessen in Stadtteilen und haben mobile Geschäfte, um auch abgelegene Gebiete zu erreichen.» Ausserdem produziere man mehr als ein Dutzend Fernseh- und Radioprogramme wöchentlich.

Engagiert für den Präsidenten

Unter Taibos Leitung wurde der Kulturfonds, der früher als eines der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Verlagshäuser Lateinamerikas bekannt war, radikal umgebaut. «Heute machen wir vor allem Belletristik und Lyrik. Ungeheuren Erfolg haben wir mit einer Edition, in der wir Bücher für weniger als einen Dollar anbieten. Fünf Millionen Exemplare haben wir in dieser Reihe bisher verkauft. Bücher für Leute, die kein Geld haben.»

In seiner Fangemeinde hat Taibos Engagement für Mexikos linkspopulistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador viele Fragen aufgeworfen. Mit seinen wilden Abenteuerromanen und seiner Nähe zum Zapatismus hat sich Taibo einen Ruf als Anarchist erworben. Jetzt jedoch arbeitet er für eine Regierung, die von einigen sozialen Bewegungen scharf kritisiert wird. Die Regierung von Präsident López Obrador finanziert grosse Infrastrukturvorhaben wie die interozeanische Zugverbindung des Tren Maya, baut die Ölindustrie aus und hat ein Bündnis mit der notorisch korrupten mexikanischen Armee geschlossen.

Doch Taibo verteidigt den Präsidenten entschieden. Die Kritik sei oberflächlich und spiele der Rechten in die Hände, antwortet er kategorisch. «López Obrador hat dafür gesorgt, dass die Militärs beim Bau von Staudämmen und Strassen eingesetzt werden, anstatt Bauern zu vertreiben. Das finde ich sehr vernünftig. Am Bau der neuen Zugtrasse sind lokale Gemeinschaften direkt beteiligt, was der Korruption entgegenwirkt. Und dass Mexiko Raffinerien errichtet, um sein Benzin nicht länger teuer importieren zu müssen, ist ebenfalls sehr sinnvoll.»

Erstmals eine Frau

Auf den Konflikt zwischen Überzeugungen und Praxis angesprochen, stimmt der Schriftsteller ein Loblied auf die Heterodoxie an. Er sei ein libertärer Kommunist, aber auch anarchoider Franziskaner und sozialdemokratischer Pragmatiker. Konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen interessieren ihn offenkundig mehr als Verbalradikalismus. Und auch der Einwand, dass die zapatistischen Rebell:innen zu den schärfsten Kritiker:innen der Regierung López Obrador zählen, überzeugt ihn nicht vom Gegenteil. «Ich hege nach wie vor grosse Sympathie für die Zapatistas, nehme sie aber nur noch aus der Distanz wahr», erklärt er. Die indigene Bewegung im Südosten des Landes habe sich schon vor langer Zeit vom Rest der mexikanischen Linken abgesondert und nur noch wenig mit anderen Positionen debattiert.

In diesem Sinn fällt Taibos Bilanz von sechs Jahren Linksregierung positiv aus. «Der Mindestlohn ist stark gestiegen, die Regierung hat die Schulabbrecherquote mit Millionen von Stipendien dramatisch gesenkt, und der Staat hat endlich den völlig wirkungslosen Drogenkrieg aufgegeben.» Die Drogenbekämpfung habe sich jahrzehntelang darauf beschränkt, dass der Staat sich mit bestimmten Kartellen verbündete, um andere militärisch zu attackieren. Das habe unzählige Menschenleben gekostet, aber an den strukturellen Ursachen überhaupt nichts geändert. Viel sinnvoller sei es, Jugendlichen Ausbildungsperspektiven zu eröffnen, sodass die organisierte Kriminalität unattraktiver für sie werde.

Hinsichtlich der im Juni bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ist der Schriftsteller entsprechend optimistisch. «Wir werden mit klarer Mehrheit gewinnen», sagt er und nimmt einen grossen Schluck von seiner Cola. Amtsinhaber López Obrador darf laut Verfassung zwar nicht noch einmal antreten, doch mit der ehemaligen Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, hat die Regierungspartei Movimiento de Regeneración Nacional eine populäre Nachfolgerin aufgebaut.

Mit Sheinbaum würde erstmals eine Frau Mexikos höchstes Staatsamt bekleiden – eine Politikerin mit antifaschistischer Familiengeschichte. «Sheinbaum hat einen jüdischen Vater, ihre Mutter stammt aus einer republikanischen Familie, die vor der Franco-Diktatur in Spanien geflohen ist.» Taibo spricht über die Kandidatin, als wäre er Teil des Wahlkampfteams. Wenn die Linke gewinnt, wird er den Kulturfonds vermutlich weiterführen können – als volkseigenen Betrieb für preiswerte und populäre Bücher.