Mord und Krimi in Mexiko: Im Land der echten Morde

Nr. 39 –

Die Schweiz ist ein sicheres Land. Mexiko ist es nicht. In der Schweiz werden viele Krimis geschrieben. In Mexiko nicht. Ein kriminologischer Erklärungsversuch.


Die Schweiz ist ein sicheres Land. Im Jahre 2008 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 58 vollendete vorsätzliche Tötungsdelikte.

In der Schweiz werden viele Krimis geschrieben. Angesichts des anhaltenden Booms ist anzunehmen, dass mehr Menschen in Büchern als im richtigen Leben umgebracht werden. In den Krimis wird der Täter (selten die Täterin) stets erwischt. Und auch in der Realität bleiben nur ein paar wenige Mordfälle ungeklärt.

In Mexiko ist die Situation ein wenig anders. 110 Millionen EinwohnerInnen hat das Land, offiziell wurden zwischen August 2008 und August 2009 7296 Menschen ermordet. Alleine am 17. August dieses Jahres (einem Montag) waren es 51, so viele wie in der Schweiz im ganzen Jahr 2007. Krimis dagegen werden in Mexiko nur wenige geschrieben.

Zunächst also zum realen alltäglichen mexikanischen Krimi: Die meisten Morde werden dem organisierten Verbrechen zugeschrieben. Die Haupteinnahmequelle der Mafiosi, die sich selbst den sprechenden Namen «Narcos» geben, ist der Drogenschmuggel in die USA. Die Opfer werden oft gefoltert, umgebracht und ohne Kopf oder ohne andere Körperteile in Plastikfolie verpackt auf die Landstrasse geworfen. Zu den Mordopfern kommen all jene hinzu, die einfach verschwinden. Darunter etwa 10 000 Mädchen und junge Frauen pro Jahr. Allein in der Grenzstadt Ciudad Juárez wurden in den letzten sechzehn Jahren 437 Frauen ermordet, 600 sind verschwunden. In Tijuana werden hin und wieder sogenannte Suppenküchen ausgehoben, in denen Hunderte Leichen in Salzsäurefässern aufgelöst werden.

«Ich bin eine Ratte»

Die Narcos sind längst Teil der Volkskultur geworden. Sie lassen Lieder schreiben, in denen ihre Heldentaten, ihr Mut und ihre Potenz besungen werden. Diese «Narcocorridos» kauft man für ein paar Pesos an den unzähligen Ständen mit Musik- und Filmraubkopien, auch das ein Geschäft, in dem die Kartelle mitmischen.

Die Kartelle sind auch anderweitig um gute PR bemüht. In Sinaloa bringen die Narcos Kleinkriminelle um und hängen der Leiche Schilder mit Aufschriften wie «Ich bin eine Ratte und stehle Autos» um den Hals. Das organisierte Verbrechen kennt nur eine Strafe, die Todesstrafe. An Nachwuchs mangelt es trotz dieser Drastik nicht, die jungen Männer wollen Täter und nicht Opfer sein. «Live fast, die young» ist in Mexiko keine Romantik für gelangweilte Mittelstandskinder, sondern harte Realität. Die meisten Ermordeten sind zwischen 20 und 25 Jahre alt.

Die Gangster bringen aber nicht nur ihresgleichen, sondern auch ihnen unliebsame Journalisten, Anwältinnen und Politiker um. Allein im Staat Guerrero wurden in diesem Jahr zwanzig Politiker der linken PRD ermordet, im August traf es den Anwärter auf den Gouverneursposten. Kurz gesagt: Das Land befindet sich in einer Art Bürgerkrieg.

So viel Kriminalität, würde man meinen, ergäbe einen fruchtbaren Boden für die Kriminalliteratur. Dem ist aber nur bedingt so, es erfordert beinahe Detektivarbeit, in Mexiko mexikanische Krimis aufzutreiben. In den nicht sehr zahlreichen Buchhandlungen wird einem ein Buch über die Geschichte von Chiapas oder der Literaturklassiker «Pedro Páramo» von Juan Rulfo aus dem Jahr 1955 in die Hand gedrückt, wenn man sich nach mexikanischen Krimis erkundigt. Das Genre wird von Übersetzungen beherrscht: Stieg Larsson, Henning Mankell, John Katzenbach.

Literatur ist (wie in grossen Teilen Lateinamerikas) einer ganz kleinen Schicht von Leuten vorbehalten, die über genügend Bildung und Einkommen verfügt. Der Preis für ein Buch beträgt 100 bis 200 Pesos. Die Armutsgrenze liegt bei rund 850 Pesos pro Monat. Etwa vierzig Prozent der mexikanischen Bevölkerung lebt hart an dieser Grenze, ein gleich grosser Anteil deutlich darunter, und seit der Krise dürften es nochmals mehr geworden sein.

Nichtsdestotrotz: Es gibt ihn, den mexikanischen Krimi. Mit etwas Glück findet man ein Buch von Paco Ignacio Taibo II, dem bekanntesten mexikanischen Krimiautor. Sein Ermittler Belascoarán Shayne hat bereits 1979 die literarische Bühne betreten und seither zahlreiche Fälle gelöst. Taibo hat zusammen mit Subcomandante Marcos den Krimi «Unbequeme Tote» geschrieben. Taibos Bücher wurden auch ins Deutsche übersetzt, ebenso wie einige Krimis von Gabriel Trujillo Muñoz wie «Tijuana Blues», die paradoxerweise in Mexiko selbst schwer zu finden sind.

Als erster moderner mexikanischer Krimi gilt «El Complot Mongol» von Rafael Bernal, geschrieben in den siebziger Jahren, ein Bastard von Buch voller schwarzem Humor und brutaler Gewalt. Der Held Filiberto García versucht ein Komplott im Chinesenviertel von Mexiko-Stadt aufzuklären, das aber mehr mit der nationalen Politik als mit der gelben Gefahr zu tun hat.

Von der Polizei entführt

Zurück in die Realität: Die Narcos morden nicht nur, Entführungen sind ein grosses Geschäft, wobei das organisierte Verbrechen eng mit der Polizei zusammenarbeitet. In Tijuana war die Polizeispezialeinheit für Entführungen gleich selbst für einen Grossteil derselben verantwortlich. Opfer sind vor allem kleine und mittlere Unternehmer, Leute, die halbwegs gut verdienen wie Ärztinnen oder Anwälte und ihre Angehörigen. Das Lösegeld übersteigt oft das Vermögen der Familie, sie wird ausgeblutet und die Entführungsopfer, darunter auch Kinder, tauchen oft tot oder verstümmelt wieder auf.

Um Entführungen geht es im preisgekrönten Roman «Ley Garote» von Joaquín Guerrero-Casasola. Sein tragischer Held, Gil Baleares, Expolizist, lebt mit seinem an Alzheimer erkrankten Vater zusammen. Dieser war auch Polizist, ein harter Hund, der die Studentenrevolten der Siebziger niedergeknüppelt hat. Gil versucht nicht nur ein entführtes Mädchen zu finden, sondern auch dem Bankrott zu entkommen, seine Würde zu behalten und ein neues Auto zu kaufen.

Das Buch, erschienen in Spanien, wo inzwischen auch der Autor lebt, ist eine bittersüsse Hommage an Mexiko-Stadt: «Du verlässt das Haus und weisst nicht, ob du ganz wieder heimkommst. Innert weniger Stunden kann dir alles passieren, du wirst von einem Verrückten am Steuer vorwärts und rückwärts überfahren. Dieser Verrückte wird nicht einmal eine Strafe erhalten, weil er minderjährig ist. Du kannst gemartert, ohne Vorwarnung zum Satanismus oder zur Dianetik bekehrt, für Drogenschmuggel benutzt, von einem als St. Nikolaus verkleideten Mann in den Arsch gefickt werden oder gezwungen, eine Rabattkarte anzunehmen, die du gar nicht willst.» Es geht im Roman anfangs nicht um Mord, angesichts der Verhältnisse in Mexikos Unterwelt ist es aber schon fast selbstverständlich, dass im Laufe der Handlung einige Leute dran glauben müssen.

Unkompliziert morden

Der bei uns übliche schön komponierte Krimi mit Mord und Kommissar ist weniger verbreitet. Tatsächlich ist bei den vielen Morden das perfekte Verbrechen in Mexiko ziemlich simpel. Wer seine Frau loswerden will, verstümmelt die Leiche und wirft sie in der Nähe von Ciudad Juárez in die Wüste, damit geht der Mord auf das Konto der mysteriösen Frauenkiller. Wer einen unliebsamen Rivalen umlegt, macht ihn als Narco-Opfer zurecht, da diese Fälle weder untersucht noch gelöst werden. Komplizierte Mordkomplotts mit konstruiertem Plot sind in Mexiko schlicht unglaubhaft. Dafür gibt es viele Romane über die ganz alltägliche Kriminalität und die Kriminellen von der Strasse, Mischungen aus Reportage und Krimi wie «Sicario» von Victor Ronquillo, in welchem die Lebensgeschichte eines jungen Mannes erzählt wird, der eines schönen Tages zwölf Menschen erschiesst. In «Secuestrados» wiederum schildert der Journalist Julio Scherer García die brutale Welt der Entführer und Entführten, zu denen der Herausgeber des renommierten Politmagazins «Proceso» und sein eigener Sohn gehören.

Nicht nur bei den Entführungen sind Narcos und Polizei eng verstrickt. Auch unter den Hingerichteten finden sich viele Polizisten – nicht immer werden sie aus dem Weg geräumt, weil sie die Arbeit der Narcos störten. Es wird angenommen, dass zwischen vierzig und achtzig Prozent der Polizeibeamten für die Kartelle arbeitet – ein gefährlicher Nebenjob.

Und auch der Versuch der Regierung, das Militär gegen die Narcos einzusetzen, fruchtet kaum. Es heisst, dass die Soldaten bei Hausdurchsuchungen zuerst den Kühlschrank plündern, weil sie chronisch unterbezahlt und unterernährt sind. Auch das Militär ist deshalb leicht zu kaufen.

Miss Chihuahua vor Gericht

Die Verstrickungen zwischen Polizei, Politik und Militär sind eng. Und mittendrin die Kartelle: das Kartell von Sinalo, das Kartell von Juárez, das Golfkartell der berüchtigten Zetas – allesamt ehemalige Elitepolizisten. El Chapo Guzman, Chef des Sinaloakartells, fungiert auf der «Forbes»-Liste der 500 reichsten Personen der Welt. Die ProduzentInnen, die das Marihuana und den Mohn anpflanzen oder das Amphetamin kochen, sind arme BäuerInnen, oft Indios. Das Geld verdienen andere, die Grossgrundbesitzer, die lokalen Kaziken (die Führer und Machthaber der indigenen Gemeinden) und Politiker.

Francisco Cruz, ebenfalls ein Journalist, rollt im Roman «El Cártel de Juárez» die Geschichte dieser mächtigen Organisation auf und verknüpft sie mit persönlichen Schicksalen wie dem der Miss Chihuahua, die in den USA wegen Drogenschmuggels vor Gericht kommt.

Nicht selten spielen die Krimis in vergangenen Zeiten, offenbar ist es (wie die vielen JournalistInnen unter den Mordopfern zeigen) einfach zu gefährlich, über das reale Mexiko dieser Tage zu schreiben. Der erste Krimi von F.G. Haghenbeck, der als Comiczeichner bekannt ist, heisst «El Código Nazi» (Der Nazi-Code), ein Spionage- und Politthriller, der die Rolle Mexikos im Zweiten Weltkrieg beleuchtet.

«Crimen de Estado» (Staatsverbrechen) von Gregorio Ortega Molina wagt sich in die Zeit von 1982 bis 1986, als die Regierung, unter Druck von IWF und Weltbank, mit den Narcos einen Pakt schliesst, damit die Banden ihre Gewinne im eigenen Land reinvestieren. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan hatte gefordert, dass Mexiko den USA zur Schuldentilgung die Baja California abtritt, den nördlichsten Bundesstaat Mexikos, an der Grenze zu Kalifornien. In diesem Roman, der nahe an der Realität bleibt, werden die Ursprünge der jetzigen verfahrenen Situation fassbar.

Es gibt sie also durchaus, die mexikanische Kriminalliteratur, wenn sie sich auch stark von der bei uns bekannten unterscheidet. Es dürfte an den bitteren Lebensumständen der meisten MexikanerInnen liegen, dass sie lieber Telenovelas schauen als Krimis lesen. Wenn die Angst um Leib und Leben Teil des Alltags ist, braucht man den wohligen Schauer nicht, dem wir uns im sicheren Wohnzimmer bei der Lektüre eines Krimis gerne aussetzen. Mal ganz davon abgesehen, dass die Leute in Mexiko gar kein Wohnzimmer haben.