Mexiko: Die erste Frau
Claudia Sheinbaum ist die haushohe Favoritin für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Doch so richtig begeistert scheinen die Wähler:innen nicht.
Der offizielle Stuhl des mexikanischen Präsidenten heisst «silla del águila», der «Sessel des Adlers», weil dieser Vogel das Wappen von Mexiko schmückt. Es sassen schon die unterschiedlichsten Männer darauf: echte Revolutionäre, linke Reformer und ab 2000 auch ein paar stockkonservative Kapitalisten. Nur eine Frau hat sich dort noch nie niedergelassen.
Das wird sich ändern. Am 2. Juni wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die erste Präsidentin Mexikos gewählt werden, und sie wird aller Voraussicht nach Claudia Sheinbaum heissen. Die Kandidatin der jetzigen Regierungspartei Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung) hat in der Wahlabsicht gut zwanzig Prozentpunkte Vorsprung vor der zweiten Frau, der konservativen Xochitl Gálvez.
Die 61-jährige Sheinbaum ist die Kandidatin des jetzigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Der Linkspopulist, den man in Mexiko nach seinen Initialen kurz AMLO nennt, ist gegen Ende seiner sechsjährigen Amtszeit beim Volk so beliebt, dass es schwierig ist, eine Wahl zu verlieren, wenn man von ihm aufs Schild gehoben wurde. Sheinbaum arbeitet schon ein Vierteljahrhundert mit ihm zusammen. Im Jahr 2000, als López Obrador Bürgermeister von Mexiko-Stadt war, holte er die Umweltwissenschaftlerin von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko als Umweltsekretärin in sein Kabinett. Zuletzt war sie von 2018 an selbst Bürgermeisterin der Hauptstadt. Im vergangenen Jahr schied sie dann vorzeitig aus dem Amt, um sich dem Präsidentschaftswahlkampf zu widmen. López Obrador liess nie einen Zweifel daran, dass er sich sie – auch gegen Widerstand in der eigenen Partei – als Nachfolgerin wünschte.
Erfolgreiche Covid-Politik
Claudia Sheinbaum ist bislang nur selten aus dem Schatten ihres politischen Ziehvaters getreten. Am deutlichsten zeigte sie ihr eigenes, ganz anderes Profil während der Covid-Pandemie ab 2020, die López Obrador, selbst ein paarmal infiziert, auf die leichte Schulter genommen hatte. Sheinbaum dagegen setzte in Mexiko-Stadt Abstandsregeln durch und organisierte die erste grosse Impfkampagne des Landes. Mit einer einfachen elektronischen Anmeldung wurden grosse Menschenansammlungen in den Impfzentren vermieden. Ihr Modell wurde in vielen anderen Städten kopiert.
Die in Mexiko-Stadt geborene Tochter jüdischer Einwander:innen aus Litauen und Bulgarien war einst eine anerkannte Wissenschaftlerin. Von 2007 bis 2015 war sie Mitglied des Weltklimarats IPCC und schrieb am vierten und fünften Bericht dieses Gremiums mit, einmal über Klimawandel und Migration, das andere Mal über Industriepolitik. Als Bürgermeisterin legte sie einen umfangreichen Aktionsplan zur Anpassung der Multimillionenstadt an die Erderhitzung vor. Als Präsidentin, sagt sie, wolle sie «Mexiko für den Klimawandel fit machen». Von den in ihrem Plan vorgeschlagenen Massnahmen für die Hauptstadt wurden jedoch in ihrer Amtszeit nur ein paar wenige tatsächlich umgesetzt. Es gibt vier Seilbahnen über dicht bebaute Armenviertel, ein paar zusätzliche Kilometer Metrolinie, ein paar Dutzend Elektro- und Oberleitungsbusse, dazu die Anfänge eines Radwegnetzes.
«Kurzfristige Effekthascherei»
Demgegenüber ist Sheinbaum für das auf Stelzen gebaute zweite Stockwerk des Autobahnrings rund um die Hauptstadt verantwortlich, der noch mehr Autoverkehr anlockt. Sie hat eine Schnellstrasse quer durch das Feuchtgebiet von Xochimilco im Süden der Stadt bauen lassen und gefährdet damit eine der letzten Naturreserven, die so etwas wie eine Kühlanlage für den Moloch Mexiko-Stadt ist. Und sie lässt dort immer mehr Tiefbrunnen bohren. Das mag die derzeitige Wasserknappheit kurzfristig ein bisschen lindern. Als Wissenschaftlerin aber hatte sie gesagt: «Wer das Wasserproblem von Mexiko lösen will, braucht einen Dreissigjahrplan.» Eigentlich weiss sie, dass sie mit immer neuen Tiefbrunnen die Stadt trocken legen wird. Ehemalige Kolleg:innen von der Nationalen Autonomen Universität erwarten deshalb gar nichts von ihr. «Sie hat sich an die Politik mit ihrer kurzfristigen Effekthascherei verkauft», sagt etwa der Biologieprofessor Luis Zambrano, der über die Restaurierung des Feuchtgebiets von Xochimilco forscht.
Im Wahlkampf spielt die Umweltpolitik eine eher untergeordnete Rolle. Vor allem verspricht Sheinbaum, die von López Obrador aufgelegte Sozialpolitik fortzuführen. Dieser hatte den Mindestlohn erheblich erhöht und Programme zur Armutsbekämpfung und Ausbildung aufgelegt, meist in Form von Geldtransfers. Ihre Wahlkampfstrateg:innen haben ihr empfohlen, den beliebten Amtsinhaber zu kopieren – was manchmal jedoch schiefgeht. Der Ziehvater und seine Kandidatin sind sehr unterschiedliche Charaktere. AMLO ist bei öffentlichen Auftritten eine sympathische Plaudertasche, die trotz bisweilen scharfer Polemik meist freundlich bleibt. Sheinbaum dagegen ist streng, fast hölzern und pflegt einen eher akademischen Redestil.
Trotzdem werden sie die Anhänger:innen der Regierungspartei wählen – so wie der Taxifahrer Juan Carlos Paredes. Vor sechs Jahren wählte er voller Überzeugung López Obrador als Hoffnungsträger der Mittel- und Unterschicht. Jetzt sagt er: «Claudia ist nicht das, was wir wollen. Aber sie ist, was wir haben.»