Ein Traum der Welt: Die Hitze überleben
Annette Hug hat Angst um eine Seniorin
Seit Anfang April ist sie kaum aus dem Haus gegangen. Rosa ist über achtzig und schläft in einem Raum ohne Klimaanlage. Während der Hitzewelle, die ganz Süd- und Südostasien überzog, schlief sie wenig. Bis in Manila am vergangenen Samstag heftiger Regen einsetzte, war es in Rosas Zimmer nachts zwischen 30 und 35 Grad heiss. Dabei lebt sie etwas erhöht in den Hügeln über der Multimillionenstadt. Sie hat sich einen Garten bewahrt, in dem auch alte Bäume stehen.
Die Art, in der Rosa und ihr Mann mit Verwandten und zahlreichen Hunden und Katzen zusammenwohnen, erinnert mich an Hippies. Bereits in den achtziger Jahren wollten sie eine Klimaanlage vermeiden und bauten das Haus mit vielen Öffnungen und Holz, damit die natürliche Belüftung ein gutes Raumklima schuf. In den neunziger Jahren, als ich eine Weile bei ihnen lebte, war das tatsächlich zu spüren: Rosas Schlafzimmer war um Welten angenehmer als jedes künstlich gekühlte Betongebäude. Das hat sich verändert, schreibt sie. Die Temperaturen waren diesen Mai so hoch, dass kein Lüftchen mehr ging. In einigen Regionen der Philippinen erreichte der offizielle «heat index» der «gefühlten Temperatur» Werte um die 50 Grad. Schulen wurden geschlossen. Den Leuten wurde empfohlen, das Haus nicht mehr zu verlassen, viel zu trinken und sich in klimatisierten Räumen aufzuhalten. Eine widersprüchliche Empfehlung für ärmere Leute und alte Hippies, denn sie müssen das Haus verlassen, um ein klimatisiertes Einkaufszentrum zu erreichen.
Bei den ersten Versuchen, die dieser Hitzewelle geschuldeten Todesfälle zu zählen, stellt sich eine Frage, die aus der Coronapandemie bekannt ist: Wer ist wegen und wer ist «mit» der Hitze gestorben? Diese Frage der Kausalität beschäftigte auch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, als er die Klage des Vereins Klimaseniorinnen beriet. Wie ich einer 56-seitigen Zusammenfassung des Urteils durch die Anwältin der Klägerinnen, Cordelia Bähr, entnehme, ist es schwierig zu beweisen, dass das Leben einer bestimmten Person ganz direkt und unmittelbar gefährdet ist, weil eine Regierung ihre selbstgesteckten Ziele zur Treibhausgasreduktion nicht erfüllt – wer weiss schon im Voraus, wen genau es treffen wird? Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention («Recht auf Leben») kann man deshalb nicht so leicht anwenden, weshalb das Strassburger Gericht mit Artikel 8 argumentiert, in dem es um die «Achtung des Privat- und Familienlebens» und der «Wohnung» geht.
Dass dieser Artikel auf ökologische Gefährdungen angewendet wird, hat sich in einer Reihe von Urteilen etabliert. Besonders einleuchtend ist der Fall López Ostra versus Spanien. Da hatte eine Familie geklagt, die wegen drohender Vergiftung durch eine Gerberei aus ihrem Haus evakuiert worden war.
Mit einer «dynamischen Rechtsprechung», das heisst einer neuen Interpretation des Artikels 8, sucht das Gericht nach einer Antwort auf ein drängendes Problem: Das Zeitfenster zur Abwendung einer vernichtenden Klimaerwärmung beginnt sich zu schliessen. Das Unterlassen von Massnahmen führt zu Todesfällen. Wie können sich diejenigen, die heute am meisten gefährdet sind, wehren? Der Gerichtshof in Strassburg fragt noch weiter: Wer wehrt sich für die künftigen Generationen, die jetzt noch gar nicht mitreden können?
Annette Hug ist Autorin in Zürich und stellt fest, dass die Rechtskommission des Ständerats dafür plädiert, über das eigentliche Problem nicht zu reden und dafür den Menschenrechtsgerichtshof zu ignorieren.