Menschenrechte: «Es gibt keine apolitischen Urteile»
Der Erfolg der Klimaseniorinnen in Strassburg löst harsche Reaktionen aus. Stefan Schlegel, Leiter der neuen Schweizerischen Menschenrechtsinstitution, nimmt die Argumente der Kritiker:innen auseinander.
WOZ: Stefan Schlegel, haben Sie mit der lautstarken Kritik am Klimaseniorinnen-Urteil aus Strassburg gerechnet?
Stefan Schlegel: Ich habe sie zumindest für möglich gehalten. Es war klar, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmals zum Verhältnis von Klima und Menschenrechten Position beziehen muss: ein enorm kontroverser Themenkomplex – ganz egal, wie entschieden werden würde. Aber die zugrunde liegenden Fragen verschwinden ja nicht, bloss weil man sie aufschiebt. Weniger absehbar war der Backlash in der Schweizer Debatte. Vielleicht sehe ich aber auch erst jetzt, wie viele Provokationen in einem eigentlich recht konservativen Kompromissurteil stecken.
Bevor wir zu diesem Backlash kommen: Was bedeutet das Urteil aus menschenrechtlicher Sicht?
Das Gericht hat in drei Entscheiden, die gemeinsam gelesen werden müssen, einen Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und möglichen Menschenrechtsverletzungen hergestellt. Unter Bezug auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – das Recht auf Privatleben, unter das auch Risiken für die Gesundheit fallen – hielt es fest, dass einige den Folgen des Klimawandels stärker ausgesetzt sind als andere, in diesem Fall ältere Frauen Hitzewellen. Der EGMR wandte dann eine Idee an, die in seiner Rechtsprechung schon weit zurückreicht, besonders in umweltrechtlichen Fällen: Die Unterlassung von Handlungen bei vorhersehbaren Schädigungen, etwa durch die Klimaerwärmung, kann einen Punkt erreichen, wo sie gleichbedeutend wird mit einer aktiv verletzenden staatlichen Handlung.
Inwiefern ist das Urteil denn ein konservativer Kompromiss?
Der EGMR hat die Schwelle für die Betroffenheit des Einzelnen sehr hoch angesetzt und eine faktische Notwendigkeit geschaffen, als Verband, also als Zusammenschluss Einzelner, Beschwerde zu führen. Damit schützt er sich selbst vor einer unberechenbar grossen Anzahl von Beschwerden. Ausserdem bleibt der Gerichtshof stark in einer territorialen Logik verhaftet, obwohl diese in einer globalisierten Welt an ihre Grenzen stösst – erst recht, wenn es ums Klima geht. Individuen können demnach menschenrechtsrelevant nur von den Handlungen jenes Staates betroffen sein, in dem sie sich aufhalten. Unter anderem deswegen hat das Gericht die Klimaklage von portugiesischen Jugendlichen gegen 32 Staaten gleichentags mit der Begründung abgewiesen, sie könnten nur gegen ihren eigenen Staat Beschwerde führen.
Kritiker:innen des Urteils monieren ja genau, dass die Schweiz für ein globales Problem verurteilt werde.
Dass es einen bestimmten Staat anstelle aller anderen trifft, ist die Kehrseite dieser konservativen territorialen Logik. Aber die Kritiker:innen würden es wohl als noch viel ungerechter wahrnehmen, würde die Schweiz wegen Waldbränden in Portugal verurteilt. Irgendeinen Staat musste es als Erstes treffen – und das ist nun halt jener, in dem sich eine Gruppe zuerst gut organisiert und die vielen Hürden genommen hat. Aber das Urteil betrifft nicht nur die Schweiz. Es ist ein Orientierungspunkt für alle Mitgliedstaaten des Europarats und für die anderen internationalen Gerichte, die alle eine Klimarechtsprechung entwickeln müssen. Es wäre zu kurz gedacht, es nur in Bezug auf die Schweiz zu lesen.
Der Diskurs um das Urteil ist bestimmt von Angriffen auf «fremde Richter», die Kündigung der EMRK wird nicht mehr bloss von der SVP gefordert. Dabei hat die Stimmbevölkerung die Teilnahme der Schweiz legitimiert, indem sie die Antimenschenrechtsinitiative der SVP 2018 klar verwarf. Alles schon vergessen?
Der gefährlichste Angriff auf die EMRK kam Ende der Achtziger von CVP-Ständerat Hans Danioth. Die Schweiz verfolgt die artikulierte Praxis, nur dann einer Konvention beizutreten, wenn sie diese schon erfüllt und davon ausgeht, sie nie zu verletzen. Diese Haltung bestand schon bei der Ratifizierung der EMRK vor fünfzig Jahren. Vierzehn Jahre später fiel am EGMR der «Belilos»-Entscheid gegen die Schweiz, bei dem es um die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration ging und der wichtige Fortschritte im Verfahrensrecht ermöglichte: Angeschuldigte konnten ihren Fall fortan von einem unabhängigen Gericht beurteilen lassen. Das Urteil wurde damals als ungeheure Anmassung empfunden. Der Vorstoss von Danioth scheiterte wegen nur einer Stimme. Für das Schweizer Justizsystem war die Rechtsprechung aber enorm wichtig. Wenn nun gewisse Stimmen sagen, der Nutzen der EMRK für die Schweiz sei klein, ist das also ziemlich ahistorisch.
Hat es seither Angriffe auf die EMRK gegeben?
In den nuller und zehner Jahren gab es die Diskussion mit neuer Heftigkeit in Bezug auf Ausschaffungen. Das gipfelte in der «Selbstbestimmungsinitiative», die zweifellos gegen die EMRK gerichtet war – obwohl das im Abstimmungskampf stark heruntergespielt wurde, weil man spürte, dass es nicht mehrheitsfähig war.
In der aktuellen Debatte scheinen grundlegende Prinzipien wie die Gewaltenteilung oder das Verhältnis zwischen Landes- und Völkerrecht, Menschenrechten und Demokratie durcheinanderzugeraten.
Bei diesen Fragen gibt es keinen Konsens, sondern verschiedene Konzepte. Nehmen wir die Gewaltenteilung: Da herrscht das Verständnis, Exekutive, Legislative und Judikative hätten jeweils ihre eigenen Schubladen und es sei völlig klar, wer von ihnen was zu tun habe. Das ignoriert allerdings etwa die grosse Wirkung der Verwaltung auf die Rechtsetzung und dass Gerichtsentscheide notwendigerweise politische Implikationen haben. Ob die Schweiz Artikel 8 der EMRK verletzt, ist zwar klar eine juristische Frage, aber der EGMR kann, wenn er diese Frage entscheidet, gar nicht anders, als der Politik Vorgaben zu machen. Es gibt keine apolitischen Gerichtsentscheide, schon gar nicht auf höchster Ebene. Diese Ambiguitätstoleranz fordert der Gerichtshof nun ein. Ich finde das Konzept der Checks and Balances daher hilfreicher als jenes der Gewaltenteilung: Statt Staatshandeln in Schubladen einzuteilen, betont es die Wichtigkeit, dass die Staatsgewalten sich gegenseitig auf die Finger schauen, damit niemand zu viel Macht auf sich konzentriert.
SVP-Bundesrat Albert Rösti sprach vom Widerspruch zwischen direktdemokratischen Entscheiden und den Menschenrechten. Hat der EGMR mit seiner Intervention tatsächlich einen Volksentscheid übersteuert?
Der Aussage liegt eine ersehnte Klarheit zugrunde: dass in einem Staatsgefüge irgendwo Gott hockt und das letzte Wort hat. Aber einen Punkt, an dem die Diskussion ein für alle Mal beendet ist, gibt es nicht. Stattdessen setzt ein Volksentscheid eine Wegmarke, und ein Gericht setzt – basierend auf demokratisch legitimiertem Recht – eine andere, vielleicht entgegengesetzte. Und so bewegt sich ein Dossier, hier die Klimapolitik, auf einem oft unberechenbaren Zickzackpfad. Auch das Bundesgericht hat Parlament und Volk mehrfach Signale zum Nachjustieren gegeben. Das Seilziehen zwischen einer politischen und einer juristischen Kraft besteht unabhängig von internationaler Gerichtsbarkeit.
Es kursieren aber auch begriffliche Missverständnisse: So hat das Gericht nicht interveniert, sondern es wurde von Schweizer Bürgerinnen angerufen. Es ist auch keine fremde, sondern eine gemeinsame Institution, deren Teil die Schweiz aus freien Stücken ist. Von einer Intervention von aussen zu sprechen, ist also polemisch.
Harsche Kritik übte auch SP-Ständerat Daniel Jositsch: Das Urteil dehne den Kerngehalt der Menschenrechte zu sehr aus.
Die EMRK ist eine ziemlich konservative Konvention, sie enthält bloss klassische Freiheits- und Verfahrensrechte, keine sozialen oder kollektiven Grundrechte. Wichtig zu sehen ist auch, dass von den rund sechzig Artikeln das meiste Prozessrecht ist: Wie kommt man zum Gericht, wie entscheidet dieses? Der Mechanismus – dass man einen konservativen Katalog aus Grundrechten mit einem griffigen Verfahren verbindet – ist ein Entscheid dafür, die Menschenrechte lebendig zu halten.
Was bedeutet das konkret?
Der Gerichtshof hat schon in den Siebzigern gesagt, die EMRK sei ein lebendes Instrument. Sie ist zwar in den späten vierziger Jahren geschrieben worden und ein Kind der damaligen Zeit – aber sie soll auch ein Kind der Zeit sein, in der sie angewendet wird. Viele Sachverhalte – ob Klimaveränderungen oder künstliche Intelligenz, ob medizinisch unterstützte Fortpflanzung oder die Migrationsrealität im 21. Jahrhundert – konnte man beim Schreiben der EMRK nicht voraussehen. In weiser Voraussicht hat man deshalb ein Gremium geschaffen, das die alte Konvention auf immer frische Fragestellungen anwenden kann. Da ist es grotesk zu sagen, die Wörter ‹Klima› oder ‹Umwelt› stünden da nicht explizit drin, also habe ein Phänomen von einer solchen Tragweite auch keinen Zusammenhang mit der Konvention.
Sie haben zur Migrationspolitik geforscht – einem Bereich, bei dem der EGMR besonders heftig unter Beschuss steht. Zuletzt stellte der britische Premier Rishi Sunak die EMRK wegen seiner gerade vom Parlament gutgeheissenen Pläne, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern, infrage. Wie gefährlich sind solche Angriffe?
An ihnen erkennt man, dass Menschenrechte nicht einfach ein Konsens sind, auf den man bauen kann. Das wäre eine gefährliche Illusion. Auch zu meinen, etwas sei der Disposition der Mehrheit endgültig entzogen, wenn es in einer Konvention festgehalten ist, und man müsse es nicht mehr verteidigen, wäre fatal. Die Menschenrechte sind etwas, das Generation für Generation, Premierminister für Premierministerin wieder neu gefährdet ist – und neu errungen werden muss. Man braucht nicht alarmistisch zu werden, aber man muss wachsam sein.
Welche Folgen hätte eine Kündigung der EMRK?
Allein die Polemik darum richtet Schaden an. Eine Kündigungsdrohung hat immer sehr reale Folgen für die Handlungsfähigkeit des Gerichtshofs und damit die Rechtsstellung von Menschen in 46 Staaten. Der EGMR hat eine wichtige Vorbildrolle über Europa hinaus – dieses System zu gefährden, bedeutet, einen enorm wichtigen Fortschritt für alle zu gefährden. Würde sich die Schweiz zur Kündigung entscheiden, würde eine ganz wichtige Schablone für die Grundrechte wegfallen. Auch müsste sie aus dem Europarat austreten. Es ist zudem schwer vorstellbar, dass die EU in ihren Verhandlungen mit der Schweiz nicht eine Mitgliedschaft im Europarat voraussetzen würde. Insgesamt wäre es ein Weg in die Isolation.
Sie leiten die Schweizerische Menschenrechtsinstitution. Wie steht es hierzulande um die Menschenrechte?
Bei der Migration etwa hat Artikel 8 der EMRK, das Recht auf Privatleben, in den letzten Jahren zu deutlichen Fortschritten für Menschen geführt, die schon lange regulär in der Schweiz leben. Aber es gibt auch Rückschritte. Die «Ruanda-Politik» gewinnt auch in der Schweiz immer mehr an Rückhalt – eine enorm gefährliche Entwicklung. Zudem tun sich in diversen Bereichen neue Fragen auf: beim Zusammenspiel zwischen Klima, Artenvielfalt oder Technologie und den Menschenrechten. Die Vorstellung, ein Staat habe eine bestimmte Bevölkerung und ein Gebiet und deshalb seien die Verantwortlichkeiten klar, kommt im Kontext des Klimas immer stärker unter Druck. Das Gleiche gilt etwa für die Regulierung von Wertschöpfungsketten, viele digitalisierte Sachverhalte oder hybride Kriegsführung. Alles Herausforderungen für die Menschenrechte – nicht nur, aber auch in der Schweiz.
Der Jurist und Migrationsexperte Stefan Schlegel (41) leitet seit Februar die Schweizerische Menschenrechtsinstitution (SMRI). Das neu gegründete Zentrum hat zum Ziel, die Menschenrechte in der Schweiz zu schützen und zu fördern.