Klage der Klimaseniorinnen: Die grosse Vorführung
Die offizielle Schweiz musste sich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verteidigen – und legte dabei eine entblössende Selbstgerechtigkeit an den Tag.
Ist das Nervosität? Als Franz Perrez im zweiten Teil der Anhörung zur Argumentation ansetzt, findet er für einige lange Sekunden weder seine Notizen noch seine Worte. Es geht um die Frage nach dem «gerechten Anteil», den die Schweiz an die globale Eindämmung der Klimaerhitzung zu leisten habe. Das sei «auf jeden Fall eine wichtige Frage», sagt Perrez, seit 2010 Umweltbotschafter der Schweiz und als solcher dreizehnfacher Schweizer Delegationsleiter an den Klimagipfeln der Uno. Dann fängt er sich und legt wieder los, erklärt galoppierend, dass es zu den Kriterien einer fairen Beteiligung an Reduktionsmassnahmen und Anpassungsfinanzierungen keine internationale Übereinkunft gebe. Und führt unter anderem aus, dass die Schweiz «in einer speziellen Situation» sei, weil das Potenzial an «verfügbaren, kostengünstigen, raschen Massnahmen» für Emissionseinsparungen hierzulande eben gering sei.
Es ist bloss eine Momentaufnahme dieser Anhörung. Aber sie steht symptomatisch für das Bild, das die offizielle Schweiz an diesem Mittwochmorgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg abgibt: Sie redet sich um Kopf und Kragen beim Versuch, angesichts der aufziehenden Klimakatastrophe die eigene Verantwortung herunterzuspielen.
Geduldig und bestimmt
Kaum je hat die Schweiz in Strassburg derart grosse internationale Aufmerksamkeit erhalten. Seit die Klage führenden Frauen vom Verein Klimaseniorinnen am Vortag am Basler Bahnhof aufgebrochen sind, werden sie von einer grossen Menschentraube begleitet, die Frauen sind stets umzingelt von Video- und Fotokameras, über ihnen schweben bepelzte Stangenmikrofone. Mit bewundernswerter Geduld geben sie unentwegt Interviews, immer entwaffnend freundlich und offen – aber genauso bestimmt in der Aussage. Diese ist im Grunde simpel: Als Frauen höheren Alters seien sie besonders stark von den Folgen der Klimaerhitzung betroffen, insbesondere von Hitzewellen. Ebenso schlüssig ist ihr Vorwurf an die Bundesbehörden, diese würden ihrer menschenrechtlich verbrieften Schutzpflicht nicht nachkommen.
Schon im November 2016 traten die Klimaseniorinnen mit einem Rechtsbegehren an den Bund, genauer ans Umweltdepartement (Uvek) und dessen Bundesämter: Die veranschlagten Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020 und 2030 seien bei weitem zu tief angesetzt, argumentierten sie damals. Zu tief im europäischen Vergleich und zu tief, um die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Konkret forderten sie, dass der Bund «durch Bundesrats-, Departements- oder Amtsentscheid» ein Vorverfahren für eine ambitioniertere Gesetzgebung auslöse.
Das Uvek, damals noch unter der Leitung von Bundesrätin Doris Leuthard, wies die Klimaseniorinnen achselzuckend ab. Formaljuristisch begründete es dies damit, dass die Gesuchstellerinnen «öffentliche Interessen» verfolgten, die «keine Opfereigenschaft begründen können». Daneben führte es ellenlang aus, dass die Schweiz mit den globalen Klimaschutzbestrebungen Schritt halte; wie immer sei «ein international abgestimmtes Vorgehen» wichtig, für das sich die Schweiz intensiv einsetze. «Das 2°-Ziel wurde also nicht aus den Augen verloren», hiess es bezeichnenderweise – als wäre eine Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad Celsius, deren Folgen schlimm genug sein werden, gar nie ernsthaft angepeilt worden.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht mussten die Klimaseniorinnen folglich darlegen, dass sie den Klimaschutz in erster Linie für sich selbst einforderten – und dass der Schutz der Allgemeinheit quasi ein Nebeneffekt sei. Erneut wurde ihr Anliegen abgeschmettert. Vor drei Jahren bestätigte auch das Bundesgericht das Urteil: Fast schon salopp argumentierte es, die Klimaseniorinnen seien von der Erderhitzung nicht «mit hinreichender Intensität» betroffen – und überdies bleibe «noch ein gewisser Zeitraum zur Verfügung», um die Erderhitzung unter 2 Grad zu halten.
Soll wohl heissen: Es muss alles noch viel schlimmer werden, bevor der Bund sich in der Pflicht sieht, Massnahmen zu ergreifen.
Märchen von der Musterschülerin
In der Grossen Kammer des EGMR geht es nun um die Frage, ob den Klimaseniorinnen in der Schweiz ein faires Verfahren verwehrt wurde – und ob das Land durch seine klimapolitische Ambitionslosigkeit deren Menschenrecht auf Leben verletzt. Für die Schweiz spricht zuerst Alain Chablais, der am EGMR die Verhandlungen führt, die das Land betreffen. Dann tritt Franz Perrez ans Mikrofon, um etwas ungestüm das Märchen von der Klimamusterschülerin Schweiz zu erzählen.
Was aber in der «Arena» des Schweizer Fernsehens funktionieren mag und wohl auch in der Wandelhalle des Bundeshauses, hat im geschichtsträchtigen Gerichtssaal einen schweren Stand: Jessica Simor, die renommierte Menschenrechtsanwältin der Klimaseniorinnen, zerpflückt in ihrem eindringlichen Plädoyer die Argumentation der Schweiz. Das Land stehe gemäss Genfer Konvention in der Pflicht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Leben der Klimaseniorinnen zu schützen, erfülle diese Pflicht aber «nicht im Entferntesten». Die Klimaziele der Schweiz seien deutlich ungenügend – doch selbst diese würden verfehlt.
Vor dem Gerichtsgebäude, wo die Klimaseniorinnen von Unterstützer:innen aus Frankreich und Deutschland jubelnd in Empfang genommen werden, ist die Stimmung euphorisch. Vielleicht ist heute ein historischer Tag, so die Überzeugung; vielleicht wurde soeben der Grundstein gelegt für ein Leiturteil, das staatlichen Klimaschutz in Europa zum Menschenrecht machen wird. Rosmarie Wydler-Wälti, Kopräsidentin des Vereins Klimaseniorinnen, hat jedenfalls ein gutes Gefühl: «Unsere Advokatin hat die Fragen der Richter:innen wissenschaftlich und mit viel Zahlenmaterial beantwortet», sagt sie. «Die Schweiz hingegen war im Verteidigungsmodus.»
Immerhin konsistent
Nach der Anhörung gehts gleich weiter in den Pavillon Joséphine, ein schmuckes Gebäude mitten im weitläufigen Orangeriepark. Auch das gehört zur guten Inszenierung dieser Kampagne: Im prall gefüllten Saal tummeln sich nicht nur die vielen angereisten Klimaseniorinnen, auch die Mitglieder des Rechtsteams und prominente Unterstützer:innen mischen sich unter die Leute, reihen sich in die Schlange vor der Essensausgabe ein. Sein Eindruck sei positiv, sagt Anwalt Martin Looser. Aus den Fragen der siebzehn Richter:innen sei ersichtlich geworden, dass sie sich intensiv mit dem Fall auseinandergesetzt hätten. «Ihnen ist klar, dass ihr Urteil weit über die Schweizer Grenzen hinaus Auswirkungen hat», so Looser.
Diesen Eindruck teilt ETH-Professorin Sonia Seneviratne, renommierte Klimawissenschaftlerin und Mitautorin bereits mehrerer Berichte des Weltklimarats. Zusammen mit ihrem ETH-Kollegen Andreas Fischlin hat sie eine von zahlreichen Drittparteieninterventionen geschrieben, die dem Gericht wissenschaftliche Hintergrundinformationen zum Fall liefern. «Jetzt müssen wir abwarten, wie es rauskommt», sagt Seneviratne. «Aber womöglich ist der juristische Weg tatsächlich eine Möglichkeit, wie sich Klimamassnahmen in Europa beschleunigen lassen.»
Es wird noch lange dauern, bis die Richter:innen einen Entscheid fällen. Der Fall der Klimaseniorinnen ist bloss die erste von mehreren Klimaklagen, die sich der EGMR vorgenommen hat (vgl. «Weichenstellung in Strassburg» im Anschluss an diesen Text); mit einem Ergebnis ist nicht vor Ende Jahr zu rechnen. Verschiedene Szenarien sind denkbar, darunter ein Urteil gegen die Schweiz. «Wenn das Gericht wirklich durchentscheidet, dann wäre das tatsächlich historisch», sagt Roda Verheyen. Die Rechtsanwältin, Richterin und Buchautorin hat vor zwei Jahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht den berühmten Fall gewonnen, bei dem das dortige Klimaschutzgesetz als grundrechtswidrig eingestuft wurde. «Und selbst wenn das Gericht den Fall zurückverweist, wäre dies bereits ein klares Zeichen», sagt Verheyen. Damit nämlich würde es implizit feststellen, dass die Grundrechte der Konvention auch in Klimafragen anwendbar seien. Vom selbstgerechten Auftritt der Schweiz sei sie übrigens überhaupt nicht überrascht gewesen. «Das war schon sehr konsistent», sagt Verheyen und muss lachen.
So haben die Klimaseniorinnen mit ihrem langen Gang durch die Instanzen bis in den Strassburger Gerichtssaal vor allem eines mal wieder bewiesen: Ohne äussere Impulse lässt sich die Schweiz kaum wirklich bewegen. Fast macht es den Eindruck, als warteten die Entscheidungsträger:innen förmlich auf eine Verurteilung, um endlich handeln zu müssen.
Klimaschutz als Menschenrecht : Weichenstellung in Strassburg
Der Fall der Klimaseniorinnen bildete den Auftakt zu mehreren klimarelevanten Anhörungen, die vor der Grossen Kammer des EGMR in diesem Jahr stattfinden. Eine weitere folgte letzte Woche gleich im Anschluss: Damien Carême, ehemaliger Bürgermeister der nordfranzösischen Kleinstadt Grande-Synthe, hat Frankreich wegen Untätigkeit beim Klimaschutz verklagt. Nach der Sommerpause wird der Gerichtshof den Fall von sechs jungen Portugies:innen anhören, die, ausgehend von verheerenden Waldbränden im Jahr 2017, bei denen 65 Menschen ums Leben kamen, Klage gegen 32 europäische Staaten erheben.
In allen drei Fällen geht es insbesondere um Artikel 2 der Genfer Menschenrechtskonvention: das Recht auf Leben. Es wird erwartet, dass der EGMR mit seinen Entscheiden eine grundlegende Weichenstellung vornimmt, die für weitere pendente und zukünftige Klimaklagen bedeutsam ist. Entsprechend gross ist das internationale Interesse.
Am Ursprung der juristischen Kampagne der Klimaseniorinnen stand Greenpeace. Georg Klingler, Klimaexperte der Umweltorganisation, suchte 2015 nach Möglichkeiten, den juristischen Exploit der niederländischen Klimastiftung Urgenda auf die Schweiz zu übertragen: Ein Bezirksgericht in Den Haag hatte entschieden, dass der niederländische Staat aufgrund dürftiger Reduktionsziele gegen Grundrechte verstösst. In Klinglers Auftrag schrieb Anwältin Cordelia Bähr zusammen mit der mittlerweile verstorbenen Umweltrechtsexpertin Ursula Brunner ein Rechtsgutachten, auf dessen Erkenntnissen 2016 die Gründung des Vereins Klimaseniorinnen aufbaute.
Der Verein wuchs auf mittlerweile über 2000 Mitglieder an, und auch das Rechtsteam erhielt wiederholt Zuwachs; mit Jessica Simor und Marc Willers stiessen im November jene zwei namhaften britischen Anwält:innen hinzu, die in Strassburg für die Gesuchstellerinnen sprachen. Die Klimaseniorinnen bilden einen eigenständigen Verein, können aber auf eine finanzielle Garantie von Greenpeace zählen. Die NGO gibt an, seit Beginn der Kampagne durchschnittlich rund 100 000 Franken pro Jahr dafür aufgewendet zu haben.