Biodiversität: Im Moor steht nun eine Tankstelle
Der Abstimmungskampf um die Biodiversitätsinitiative beginnt. Warum stehen viele Linke diesem «Blüemli-Vögeli-Thema» so distanziert gegenüber? Ein Ausflug in den Föhrenwald und eine Begegnung mit einem Professor, der im Thema revolutionäres Potenzial sieht.
Pfingstmontag auf dem Bözberg im Aargauer Jura. Die Töffs dröhnen, der Zilpzalp singt. Kinder rennen in den Wald und suchen Feuerholz. Dort steht Max Gasser im hohen Gras und zählt Blumen. Die Föhren stehen weit auseinander, viel Licht fällt auf den Boden. Das Immenblatt leuchtet pink, wie eine überdimensionierte Taubnessel, Wolfsmilch blüht schwefelgelb, kaum sichtbar daneben das Zweiblatt, eine Orchidee mit kleinen grünen Blüten.
Gasser ist pensionierter Geobotaniker, Experte für die räumliche Verbreitung von Pflanzen. Seit über vierzig Jahren engagiert er sich im Natur- und Vogelschutzclub Bözberg (NVSC), lange war er Präsident. Er kennt jedes Detail – und jede Pflanze – dieser Landschaft oberhalb von Brugg, die Joggern und Hundespaziergängerinnen gefällt: die schönen Wälder, der weite Blick. Er weist auf einen seltenen Baum hin, der hier wächst, die Schwarzwerdende Weide. «Eine Sumpfpflanze – dort unten, wo heute die Tankstelle an der Hauptstrasse steht, war früher ein Flachmoor.»
Die Biodiversitätsinitiative
Am 22. September kommt die Biodiversitätsinitiative an die Urne, lanciert von verschiedenen Umweltverbänden. Sie möchte schutzwürdige Landschaften, Ortsbilder und Naturdenkmäler bewahren. Bund und Kantone sollen dafür sorgen, dass die «zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen». Laut Verfassung sind die Kantone für den Naturschutz zuständig. Nicht alle erfüllen diese Aufgabe, was auch an den knappen Budgets mancher Kantone liegt. Ein Ja zur Initiative stärkt die Bundesebene und bereits bestehende Verfassungsartikel zum Naturschutz.
Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats wollte Pflege und Vernetzung der Ökosysteme auf der ganzen Fläche fördern, auch im Siedlungsgebiet. Doch der Ständerat blockierte die Vorlage, auch als der Nationalrat eine weniger ambitionierte Version vorschlug, die auf neue Verpflichtungen für die Landwirtschaft verzichtet hätte. Die Allianz von Bauernverband und Wirtschaftsverbänden setzt auf Konfrontation.
Der NVSC pflegt diesen Wald und sieben andere Schutzgebiete in der Gemeinde Bözberg. So ähnlich wie hier, hell und parkartig, müssen vor 200 Jahren viele Schweizer Wälder ausgesehen haben: als die Bäuer:innen ihre Kühe, Ziegen und Schweine noch in den Wald trieben. In manchen Regionen konnte er sich nicht mehr verjüngen – besonders Ziegen lieben Laub und fressen Jungbäume ratzekahl. Die Forstingenieure, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der neu gegründeten ETH ausschwärmten, versuchten, das Weiden im Wald einzudämmen. 1876 trat das Waldgesetz in Kraft, dessen Grundsatz die Schweizer Landschaft bis heute prägt: Die Waldfläche darf nicht abnehmen. In den meisten Kantonen wurden Wald und Landwirtschaftsland strikt getrennt.
Waldweide ist schädlich: So lernten es seither Generationen von Förster:innen. Entsprechend empört waren manche, als Gasser vor zwanzig Jahren im Bözberger Föhrenwald wieder Rinder weiden lassen wollte. «Vor allem Jäger und Orchideenfreunde» hätten heftig opponiert, erzählt er. Dabei wollte Gasser ja gerade die Orchideen retten. Ihm war aufgefallen, dass sie in den Föhrenwäldern immer seltener wurden, obwohl Mitglieder des NVSC zwischen den Bäumen die Krautschicht mähten. Meterhohes Pfeifengras verdrängte die Blumen. Seit 2003 weiden im Spätsommer kleine, leichte Dexterrinder ein paar Wochen im Wald. Gasser dokumentiert akribisch, wie sich der Pflanzenbestand verändert. «Heute ist klar: Für die Pflanzenvielfalt ist Beweidung besser.» Die offenen Stellen, die der Tritt der Kühe hinterlasse, seien optimal für keimende Kräuter wie Orchideen. Auch die spektakuläre Bienenragwurz, deren Blüte ein Insekt imitiert, blüht jetzt wieder.
«Nicht so ein Ökofaschist»
An vielen Hausfassaden hängen sie schon: die gelben, grünen und hellblauen Fahnen «Ja zur Biodiversität». Sie werben für die Biodiversitätsinitiative, die am 22. September zur Abstimmung kommt. Wer kann da schon dagegen sein, gegen die Vielfalt der Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroben und ihrer Ökosysteme? Bevor der Abstimmungskampf richtig begonnen hat, ist klar: Es geht um die Frage, wie ernst die Schweiz den ökologischen Notstand nimmt – wieder einmal. Und die Abstimmung wird sich – wieder einmal – daran entscheiden, wer die Wähler:innen in der Mitte überzeugen kann: Links-Grün oder die SVP? Was die Initiative genau will, scheint über Fachkreise hinaus nur wenige zu interessieren. Denn «die Schweizer Linke stimmt in Umweltthemen so ab, wie es die Naturschutzorganisationen vorgeben», sagt Christoph Küffer, Professor für Siedlungsökologie an der Ostschweizer Fachhochschule (OST) in Rapperswil. Küffer ist einer von ganz wenigen in der Deutschschweiz, die versuchen, Biodiversität als linkes Politikthema zu lancieren. Doch er weiss, dass das ein schwieriges Unterfangen ist: Die urbane linke Bevölkerung lebe «ein Leben fern von alltäglicher Arbeit in der Natur, oft mit wenig ökologischem Wissen, und hat sich in der Moderne ein rhetorisches Rüstzeug zugelegt, um diese Naturferne zu rechtfertigen», schrieb er kürzlich in einer Art Manifest für das Denknetz, «Naturschutz als revolutionäres linkes Projekt».
Das stimmt sogar für einen Teil der Klimabewegung. Gewohnt flapsig betonte Tadzio Müller, Mitgründer des deutschen Klimabündnisses Ende Gelände, letztes Jahr in einem Talk seinen urbanen Hintergrund: «Natur, da geht man zum Cruisen oder zum Urlaub hin, aber nicht zu viel davon, bitte.» Die Liebe zu anderen Arten wirkt harmlos und verschroben (diese Blüemli-Vögeli-Freaks!) – oder noch schlimmer: verdächtig. «Du bist wenigstens nicht so ein Ökofaschist wie die anderen Ökologen», solche Sprüche müsse er sich aus Architekt:innenkreisen heute noch anhören, sagt Küffer.
Der klassische Naturschutz, der auf Reservate und seltene Arten fokussiert, war lange die Domäne von FDP und CVP. Als nach 1968 die linke Umweltbewegung aufkam, wurden mehrheitsfähige Allianzen möglich: wie bei der Rothenthurm-Initiative (1987) und der Alpeninitiative (1994). Heute haben die Bürgerlichen das Thema den Linken überlassen – die es fast widerwillig verwalten. Dass das Klima eine Klassenfrage ist, wird in der Linken heute breit thematisiert. Dass für Biodiversität dasselbe gilt, noch kaum. Die Rechte von indigenen Gesellschaften an genetischen Ressourcen werden langsam ein Thema, doch Biodiversität berührt noch viele andere soziale Fragen. Etwa den Zugang zu Naturräumen, der je nach Einkommen extrem ungleich verteilt ist: «Reich ist, wer im Alltag noch gesundes Wasser, Boden, Gärten und Landschaften geniessen darf», schreibt Küffer.
Futter importiert, Gülle bleibt hier
Als Max Gasser ein Kind war, arbeitete ein Nachbar auf dem Bözberg noch mit dem Ochsengespann. Nichts habe die Landschaft so stark verändert wie die Intensivierung der Landwirtschaft, sagt er. «Ich lernte noch, dass eine Fettwiese zweimal geschnitten wird – heute sind fünf oder sechs Schnitte üblich. Das überlebt kaum ein Insekt. Was damals eine Fettwiese war, gilt heute als Ökofläche.» In den siebziger Jahren dokumentierte er für «Schweizer Jugend forscht» den Pflanzenbestand in einem anderen Bözberger Föhrenwald. 2014 konnte er die Untersuchung im selben Waldstück wiederholen. «Im Wald hatte sich gar nicht so viel geändert – aber in den letzten zehn Jahren hat die Überdüngung massiv zugenommen.» Er deutet auf eine Ackerkratzdistel im Föhrenwald. Sie zeigt einen hohen Nährstoffgehalt im Boden an. «Ich hätte nie gedacht, dass die einmal hier wächst.»
Der Stickstoffüberschuss ist ein enormes, ausserhalb von Fachkreisen wenig bekanntes Problem für die Biodiversität, vor allem in Regionen mit hohen Schweinebeständen wie der Nordostschweiz und Luzern. Die Schweiz importiert mehr als eine Million Tonnen Nutztierfutter im Jahr. Ein Teil davon wird zu Gülle. Sie macht nicht nur Wiesen eintönig und nimmt Insekten ihre Lebensgrundlage; ein Teil des Stickstoffs geht als Ammoniak in die Luft und überdüngt auch Wälder und Naturschutzgebiete. Seit einigen Jahren brächten Landwirte überschüssige Gülle aus dem Kanton Luzern in riesigen Fässern auf den Bözberg, kritisiert Gasser. «Den Nährstoffüberschuss abstellen», das wäre einer der wichtigsten Hebel für die Erhaltung der Vielfalt, sagt er.
Im Rafzerfeld treffe man auf den Äckern alle hundert Meter auf eine «Kette» von Rebhühnern, schrieb der Zürcher Hobbyvogelkundler Ulrich A. Corti vor gut hundert Jahren. «Der Abschuss ist nicht so leicht, daher die Vermehrung umso grösser.» Heute ist das Rebhuhn in der Schweiz ausgestorben; viele andere einst häufige Arten wie Hase, Feldlerche oder Kuckuck sind aus dem Mittelland fast verschwunden. Während die Wälder in den letzten Jahrzehnten vielfältiger wurden, sind die Gewässer stark verbaut – neue Wasserkraftwerke drohen die Situation noch zu verschlechtern. Ein Drittel aller in der Schweiz erfassten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten ist gefährdet oder vom Aussterben bedroht.
Und der Blick auf die «eigene» Landschaft ist unvollständig: Die Schweiz bezieht einen Grossteil ihrer Rohstoffe und Gebrauchsgüter aus dem Ausland. Sie exportiert damit einen grossen Teil der Biodiversitätsschäden. Global ist nicht nur das Verschwinden von Arten alarmierend, sondern auch der Einbruch ganzer Populationen: Heute leben zwei Drittel weniger wilde Wirbeltiere auf der Erde als 1970. Und wenn man alle Säugetiere der Welt – inklusive Menschen – wägen würde, würden Wildtiere nur vier Prozent des Gewichts ausmachen.
«Es ist wichtig, dass wir auch positive Botschaften vermitteln können», sagt Claudia Müller, die jetzige Präsidentin des NVSC. Sie ist Ornithologin und arbeitet bei der Schweizerischen Vogelwarte. Ihre Dissertation schrieb sie über Turmfalken – und über sie kann sie auch eine Erfolgsgeschichte erzählen. Vor zwanzig Jahren hängte sie für die kleinen Greifvögel fünfzig Nistkästen in der Region auf und begann, den Bruterfolg zu kontrollieren. «Der Falke hat von den Kästen profitiert.» Auch die beteiligten Landwirt:innen hätten Freude an den Vögeln bekommen, und der Bestand entwickelte sich so gut, dass die Turmfalken andere Regionen besiedelten. «Einer brütete sogar bei Toulouse.»
Wenn Eulen Eulen fressen
So einfach funktioniert Artenförderung nicht immer. Den Schleiereulen zum Beispiel haben die Kästen des NVSC nicht viel gebracht. Dafür geht es dem Uhu besser – was einen Zusammenhang haben könnte: Die grösste Eulenart der Welt hat sich in den letzten Jahren in der Region wieder ausgebreitet und frisst auch gern andere Eulen.
Auch für Singvögel hat der Verein Nistkästen aufgehängt – über 300 Vereinsmitglieder betreuen Rayons mit zehn bis dreissig Kästen. Freiwillige helfen auch bei der Pflege eines Hochstammobstgartens und bekommen dafür Most. Der NVSC organisiert Exkursionen und Vorträge, zum Beispiel über den Luchs, der seit kurzem wieder im Aargauer Jura lebt. «Da kamen über fünfzig Leute, fast die Hälfte kannten wir nicht – es waren vermutlich Katzenfans.» Müller glaubt an diese Arbeit: «Wenn die Leute etwas kennen, wollen sie es auch schützen.»
Bücher und Bildung
Es gibt «Nature Writing» von links. Das zeigen die so klugen wie schönen Texte über Wildtierbeobachtungen und ökologische Fragen in «Abendflüge» von Helen Macdonald (dtv). Grossartig geschrieben und beängstigend ist «Das sechste Sterben» von Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Kolbert (Suhrkamp) darüber, wie es zu den früheren Massenaussterben kam und was heute droht. Der Zugang zu vielfältigen Grünräumen kann Traumata heilen: Die englische Psychiaterin Sue Stuart-Smith hat in «Vom Wachsen und Werden» (Piper) ermutigende Beispiele gesammelt. Gemeinden, Schulen, Kirchen, Firmen: Alle können etwas für die Biodiversität tun. Die Anleitung gibt «Natur schaffen» von Gregor Klaus und Nicolas Gattlen (Haupt).
Der Bericht «Biodiversität in der Schweiz» des Bundesamts für Umwelt liefert aktuelle Fakten. Das Forum Biodiversität Schweiz gibt zweimal im Jahr die Zeitschrift «Hotspot» heraus, die sich an ein breites Publikum richtet und gratis abonniert werden kann. Und seit Herbst 2023 gibt es zwei neue interdisziplinäre Studiengänge: «Biodiversität» an der Universität Zürich sowie «Biodiversity Conservation» an der Universität Neuenburg.
Jugendarbeit hat im NVSC Tradition: Der Verein wurde 1962 von Jugendlichen gegründet, die sich um Wildtiere Sorgen machten. Seit langem hat er eine eigene Jugendgruppe. Die Geografin Lea Reusser leitet sie seit fünfzehn Jahren, sie war selbst schon als Kind dabei. «Draussen sein ist in der Jugendgruppe das Wichtigste», sagt Reusser. «Wir gehen zelten, kochen über dem Feuer.» Wissensvermittlung sei auch wichtig, laufe aber spielerisch ab: «Die Kinder lernen Vögel kennen oder untersuchen die Wasserqualität eines Bachs, bauen Wildbienenhäuschen und packen in den Reservaten mit an.» Ab der Sek hätten dann die meisten andere Interessen. «Aber sie erinnern sich später an die Erlebnisse in der Natur. Ich halte diesen Ansatz für sehr nachhaltig.»
Fast 120 lokale Naturschutzvereine gibt es allein im Kanton Aargau – das ist Deutschschweizer Rekord. Ihr Dachverband ist die NGO Birdlife, die sich heute nicht mehr nur um Vögel kümmert. Auch in den Kantonen Zürich, Solothurn und Baselland ist die Dichte hoch.
Gegen Bauern statt gegen das Bauen
«Es gibt viele Synergien zwischen Landwirtschaft und Naturschutz», sagt Lea Reusser. «Wir versuchen, sie lokal zu fördern. Aber auf nationaler Ebene werden die Themen oft als Gegensätze dargestellt.» Auch bei der Biodiversitätsinitiative: Der Bauernverband hat den Abstimmungskampf gegen sie schon vor Monaten eröffnet. «Die Abstimmung droht zum Kampf von Landwirtschaft gegen Naturschutz zu werden», befürchtet auch Christoph Küffer. «Ein Kampf zwischen zwei Interessengruppen, die beide unter Druck sind und beide massiv Fläche verloren haben.» Das sei bedauerlich: «Naturschutz und Landwirtschaft sollten sich besser gemeinsam gegen die massive Bautätigkeit wehren. Diese ist verantwortlich für die grossen Bodenverluste – und Böden sind die Grundlage der Biodiversität.»
Küffer findet es nicht nur gut, dass sich viele Umweltorganisationen in den letzten Jahren auf das Siedlungsgebiet konzentriert haben: «Das Agrarland hat man fast aufgegeben, weil dort die Biodiversitätskrise noch grösser ist.» Für das Naturerlebnis sei Biodiversitätsförderung in der Stadt zwar wichtig. «Aber das sind oft humusarme Flächen für Blumen und Insekten.» Für manche Arten seien sie wertvoll, für das biologische Funktionieren weniger: Um Wasser zu reinigen, das Klima zu kühlen und weitere ökologische Leistungen zu erhalten, brauche es grosse Flächen mit tiefgründigen Böden. «All diese Funktionen gehen verloren, wenn Land überbaut wird. Das lässt sich nicht kompensieren.»
Küffer unterstützt die Biodiversitätsinitiative, aber er kritisiert sie auch: «Sie fokussiert auf klassischen Naturschutz. Den braucht es, aber er reicht nicht.» Im traditionellen Verständnis sei Naturschutz Raumplanung: «Man ordnet jeder Fläche eine Funktion zu und optimiert sie. Hier ist die Natur, da der Mensch.» Diese Zweiteilung sei veraltet und fördere das Denken, man könne auf den nicht geschützten Flächen tun, was man wolle.
Tatsächlich gibt es in der Biodiversitätsforschung heute einen breiten Konsens, dass Schutzgebiete nicht genügen, sondern sich auch die Wirtschaft tiefgreifend verändern muss. Und dass sorgfältige Landnutzung nicht per se schadet, sondern zur Vielfalt beitragen kann. Indigene Aktivist:innen wehren sich seit langem gegen einen Naturschutz, der traditionelle Nutzer:innen vertreibt, und waren am letzten Biodiversitätsgipfel in Montreal sehr präsent (vgl. «Die Erklärung von Montreal»).
Die Erklärung von Montreal
Die Biodiversitätskonvention (CBD) wurde auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 unterzeichnet. Seit 2012 organisiert der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) Konferenzen, die ähnlich wie die Klimakonferenzen ablaufen. Die letzte fand 2022 in Montreal statt, man einigte sich auf 23 Ziele. Bis 2030 sollen dreissig Prozent der Erde geschützt werden; Nutzung, die in Einklang mit den Schutzzielen steht, ist dabei zulässig. Klimaschäden müssen minimiert, Umweltverschmutzung reduziert, invasive Arten eingedämmt werden. Doch es geht nicht nur um klassischen Naturschutz: Die Erklärung fordert auch die Abschaffung von biodiversitätsschädlichen Subventionen, eine Halbierung der Lebensmittelverschwendung und eine faire Verteilung der Gewinne aus genetischen Ressourcen. Sie betont die Bedeutung von Indigenenrechten, «nicht marktbasierten Zugängen», traditionellem Wissen sowie Gendergleichheit und fordert den Schutz der Rechte von Umweltaktivist:innen.
«Wir brauchen eine ökologische Landwirtschaft in einer ökologischen Landschaft», sagt Küffer. Im April ist im Wissenschaftsmagazin «Science» eine Metastudie erschienen, die – wie viele vor ihr – aufzeigt: Agrarökologische Methoden, die auf eine Vielfalt von Nutzpflanzen und -tieren, sorgfältiges Boden- und Wassermanagement setzen, stärken gleichzeitig die Funktionen der Ökosysteme, das Wohlbefinden der Landwirt:innen und die Ernährungssicherheit.
So absurd wie die Trennung in Schutz- und Ausbeutungsgebiete ist die Vorstellung, man könne den Klima- und den Biodiversitätsnotstand separat «beheben». «Die Biodiversitätskrise lässt noch viel weniger Spielraum als die Klimakrise, weiter an grünes Wachstum zu glauben», schreibt Küffer in seinem Denknetz-Text. «Will die Linke die Biodiversitätskrise ernst nehmen, muss sie sich einigen ihrer schwierigen Tabus und Widersprüche stellen.»
Elf Vogelarten pro Stunde
Ökologie sei die Leitdisziplin des 21. Jahrhunderts, sagt Küffer. In sämtlichen Ausbildungen, von Lehrberufen bis zu geisteswissenschaftlichen Studiengängen, müsse ökologisches Grundwissen vermittelt werden. «Gleichzeitig braucht es mehr Diversität und Praxisbezug in der ökologischen Forschung. Wir sollten viel stärker überlegen, was in verschiedenen Branchen und Lebenswelten Biodiversität im Alltag bedeuten kann. Wie wir sie in Aktivitäten integrieren können, die die Leute schätzen.» Hier liegt vielleicht ein Ansatz, an den Linke anknüpfen können: Ökologie als Care. «Die Natur ist verwundet, wir müssen sie pflegen.»
Eine Stunde lang sitzen Lea Reusser, Claudia Müller und Max Gasser im Schatten des Bözberger Föhrenwalds und erzählen von ihremVerein. Müller tippt immer wieder etwas in ihr Handy: die Vögel, die sie gerade singen hört. Am Ende ist sie bei elf Arten. Es sind nicht die seltensten, sondern solche, die sich unter den schwierigen heutigen Bedingungen durchschlagen: die Amsel, das Rotkehlchen, die Singdrossel, die Rabenkrähe oder der Zilpzalp mit seinem auffälligen Ruf. Elf Arten in einer Stunde. Ist das nun viel?