Biodiversität: Quer über den Frauenschuh

Nr. 26 –

Bund und Kantone fördern Güterzusammenlegungen, was zum Bau neuer Strassen führt. Bedroht das die Artenvielfalt? Oder fördert es sie, weil steile Wiesen besser gemäht werden können? In Feldis GR sind die Landwirt:innen uneinig.

Böschung neben einer unbefestigten Strasse in Feldis GR
Der Weg als Biotop: An solchen Böschungen leben seltene Pflanzen und Insekten. Mit der Melioration soll dieses Strässchen breiter werden und Fahrspuren aus Beton bekommen.

Dieses Paradies liegt an einem unerwarteten Ort. Unten die zersiedelte Agglo von Chur, das riesige Gelände der Ems-Chemie, die Autobahn, auf der Lastwagen Richtung San Bernardino donnern. Auch das Schloss Rhäzüns gehört der Ems-Chemie, Christoph Blocher hat es auf Lebenszeit von dieser gemietet. Von Rhäzüns fährt eine kleine Seilbahn mit wenigen Sitzplätzen in die Höhe. Nach Feldis, 1500 Meter über Meer, einem Ort, der fast zu schön ist, um wahr zu sein.

Die Aussicht geht auf drei Seiten, vom Calanda bis zum Piz Beverin. Rund 140 Einwohner:innen, Holzhäuser, eine Kirche, ein kleines, nicht mehr schneesicheres Skigebiet, kein Durchgangsverkehr. Das schöne Dorf gehört heute zur Grossgemeinde Domleschg.

Rund um Feldis stolpert man im Frühsommer durch eine Märchenlandschaft. Als hätte jemand einen riesigen Blumengarten angepflanzt. Die feuchten Wiesen über dem Dorf leuchten zitronengelb von Trollblumen und Schwefelanemonen, dazwischen stechen königsblau die Enziane heraus. An den Waldrändern unterhalb des Dorfes blühen so viele Orchideen, dass es sich kaum vermeiden lässt, einige zu zertrampeln. Auch der Frauenschuh wächst dort, diese Kultpflanze, die früher mit der Jungfrau Maria in Verbindung gebracht wurde. Wer mit Popkultur aufgewachsen ist, würde eher sagen, sie sieht aus wie aus einem surrealen Comic.

«Bei uns sind die seltenen Arten noch so häufig, dass die Leute gar nicht verstehen, wie aussergewöhnlich das ist», sagt die Landwirtin Ursula Hofer. «Im Mittelland ist es umgekehrt – da merken sie nicht mehr, was fehlt.» Die 52-Jährige wohnt im Nachbardorf Scheid, besitzt aber rund um Feldis Heuwiesen und Weiden für ihre Schafe und Ziegen. Und sie hat die IG Biodiversität mitgegründet, die letztes Jahr die «Tage der Biodiversität» mitorganisiert hat. An nur einem Wochenende fanden Spezialist:innen auf Hofers Parzellen 72 Tagfalter- und 75 Nachtfalterarten, 58 Wildbienenarten – und 71 verschiedene Pflanzen in einer einzigen Wiese. Hofer nennt die Insektenspezialist:innen liebevoll «Käferforscher»: «Sie waren hin und weg.» Sie hat gelernt, dass ihr der schweizweit grösste Bestand des Nördlichen Platterbsenwidderchens «gehört». Das ist ein kleiner schwarzer Falter mit tropfenförmigem rotem Muster auf den Flügeln.

«Werde keine Gülle spritzen»

Die Menschen sind die grösste Bedrohung für andere Arten. Gleichzeitig tragen sie mit ihrer Nutzung immer noch vielerorts zur Biodiversität bei. Die Landschaft bei Feldis beherbergt nur deshalb so viele Arten, weil man hier seit Jahrhunderten Tiere weidet und die Steilhänge heut. Auf flacheren Flecken säte man früher auch Getreide. Ohne diese Nutzung wäre Feldis einfach Wald – auch schön, aber viel weniger vielfältig als das heutige Mosaik aus Gehölzen und offenen Flächen.

Die Diversität der Bergwiesen ist von zwei Seiten bedroht: Viele Landwirt:innen bewirtschaften flachere Wiesen in Hofnähe intensiver, düngen sie mehr oder säen sogar Grasmischungen an, die viel Ertrag versprechen. Gleichzeitig geben sie das anstrengende Heuen von weiter entfernten Steilhängen auf. Die einen Wiesen werden monoton, die anderen wachsen zu. Mit Direktzahlungen für steile, artenreiche Wiesen und mit Zivildiensteinsätzen versucht der Bund, Gegensteuer zu geben. Aber er kann die Entwicklung oft nur verlangsamen.

Die Feldiser Vielfalt hat einen Grund, der für viele ein Ärgernis darstellt: Das Grundeigentum ist extrem zerstückelt, weil in dieser Region früher das Land unter den Erb:innen aufgeteilt wurde. Heute besitzen 275 Eigentümer:innen über 1000 Parzellen. In den letzten Jahrzehnten nahm das Dorf mehrere Anläufe, eine Güterzusammenlegung zu organisieren. Sie scheiterten alle, weil sich die Beteiligten nicht einig wurden.

Doch jetzt kommt sie, die Melioration. Und sie macht Ursula Hofer Sorgen. Denn wie immer bei solchen Projekten geht es nicht nur um eine Neuordnung der Parzellen, sondern auch um Strassenbau: 17 Kilometer des bestehenden Wegnetzes sollen zu Bewirtschaftungsstrassen ausgebaut, 2 Kilometer neu gebaut werden. 12,4 Kilometer sollen eine Befestigung aus zwei Betonspuren bekommen, damit man darauf auch mit schweren Traktoren fahren kann. Veranschlagt sind Kosten von 12,8 Millionen Franken. «Wir haben hier so viele geschützte Arten, alle wissen vom Insektensterben», sagt Hofer. «Und gleichzeitig dieses Projekt. Es will mir nicht in den Kopf.» Überall, wo sie konnte, hat sie Einsprache erhoben. Als Grundeigentümerin ist sie dazu berechtigt. Für einmal ist der zerstückelte Besitz ein Vorteil.

Auch Stefan Battaglia ist Landwirt. Er hält Milch- und Mutterkühe, ist Mitte dreissig, gehört der Meliorationskommission an und sieht das Projekt positiv. Wir treffen uns beim Schulhaus und gehen zuerst zum Sonnenhang mit dem passenden Namen Blumenweg. Hofer und Battaglia beginnen sofort, lebhaft zu diskutieren, und hören den ganzen Nachmittag nicht mehr auf.

Battaglia: Wir wollen mit der Melioration nichts kaputtmachen, wir wollen es langfristig erhalten. Ja, im ersten Moment machen wir etwas kaputt, aber dafür gewährleisten wir, dass das Land noch gepflegt wird. Es gibt heute viel weniger Betriebe, die Arbeitsbelastung ist hoch. Und der Wert dieser Wiesen ist uns bewusst. Auch mit einer Zufahrtsstrasse werde ich hier sicher nicht plötzlich Gülle spritzen!

Hofer: Wir sind uns einig, dass es Verbesserungen bei den Zufahrten braucht. Aber nicht über den Ausbaustandard. Es lohnt sich, bei jedem einzelnen Weg zu überlegen: Braucht es das wirklich? Warum überall Betonspuren? Warum Normbreite in einer Landschaft, die auch nicht genormt ist?

Battaglia: Betonspuren sind billiger im Unterhalt, und wenn sie gut gemacht sind, hat man vierzig Jahre Ruhe. Bei Kieswegen nicht. Wir sehen ja, dass es mehr heftige Gewitter gibt. Da schwemmt es den Kies weg, vor allem an den Hängen. Darum ist der Unterhalt der Kieswege teurer, und er geht auf Kosten der Gemeinde.

Hofer: Ein Teil des Problems ist, dass diese Wiesen nicht mehr Wert haben. Sie werden entschädigt wie Magerwiesen mit viel weniger Vielfalt. Wenn die Gesellschaft diesen weissen Lilien einen Wert geben würde …

Battaglia: Das ist richtig, und ich pflege das ja auch. Aber wir bekommen für diese vielfältigen Wiesen jetzt schon mehr Geld als für andere. Ein grosser Teil der Direktzahlungen fliesst in die Berge und in die Ökologie. Bis in die achtziger Jahre hat man auf Biegen und Brechen möglichst viel produziert, und jetzt soll wieder das Gegenteil gelten. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen extensiver und intensiver Landwirtschaft finden, denn wir müssen auch Lebensmittel produzieren. Die Maschinen sind effizienter und auch sicherer geworden. Die Wege entsprechen ihnen nicht mehr. Wir haben nicht mehr viele Idealisten wie dich, Ursula, die fünfzehn Hektaren mit einem vierzigjährigen Maschinenpark pflegen. Respekt, wie du das machst.

Hofer: Wenn ich neu anfangen würde, hätte ich auch andere Maschinen.

Battaglia: Schau, hier wächst ein kleiner Kirschbaum. Wenn man nicht mäht, kommen sofort Büsche und Bäume auf, alles wächst zu. Dank dem neuen Balkenmäher kann ich die Böschung wieder mähen, die mein Vater schon aufgegeben hatte. Seither kommt die Blumenvielfalt zurück. Aber ihr habt mit euren Berichten und Einsprachen Angst geschürt.

Hofer: Wenn ich darauf hinweise, dass da unten Frauenschuhe wachsen und das in der Planung nicht berücksichtigt wurde, ist das doch berechtigt.

Battaglia: Wenn ich nicht mehr heimkomme, weil mein Fahrzeug am Steilhang versagt, weiss ich nicht, ob ein paar Blumen dieses Risiko wert sind.

Hofer: Man könnte ja eine andere Route überlegen.

Battaglia: Aber ist das sinnvoll, wenn es den Weg verlängert, also mehr Land braucht?

Eines der artenreichsten Gebiete von Feldis heisst Tit und liegt weit unter dem Dorf, auf 1200 Metern: Eichenwälder, in denen weiches, hellgrünes Gras wächst, Hecken, Ställe aus sonnenverbranntem Holz, dazwischen Heuwiesen. Hier wird klar, was Stefan Battaglia gemeint hat. Die Wegspur für die Bewirtschaftung ist derart steil, dass einem angst und bange wird. «Ohne neue Zufahrt geht hier in dreissig Jahren niemand mehr heuen», sagt er.

«Hier bin ich wirklich im Dilemma», sagt Ursula Hofer. «Dort, wo die Zufahrt hinsoll, ist ein wertvoller Orchideenstandort. Aber ohne Zufahrt – wenn hier ein Fahrzeug kippt und sich jemand schwer verletzt …» Dort zwischen den Eichen blüht er, der legendäre Frauenschuh. Und genau dort sollen die Betonspuren hinkommen. Es tut weh, sich das vorzustellen. «Wir sind auf diese Wegführung gekommen, weil es keine Kurven braucht», sagt Battaglia. «Und weil sie durch den Wald führt. So geht weniger Landwirtschaftsfläche kaputt.» – «Aber was hat mehr Wert, Wald oder Wiese?», entgegnet Hofer. «Ich weiss es nicht.»

Beton vom Bund

Auch Pro Natura Graubünden hat gegen das Meliorationsprojekt Einsprache erhoben. Man sei nicht generell gegen Bewirtschaftungsstrassen, sagt Geschäftsführer Armando Lenz. Aber der Ausbau sei übertrieben, die Strassen zu breit. Meliorationen würden heute zwar besser umgesetzt als früher, man achte etwa darauf, Grasziegel von abgetragenen Böschungen vor Ort für die Wiederbegrünung zu brauchen. Aber Betonspurstrassen beeinträchtigten die Biodiversität, die Landschaftsqualität und auch die touristische Attraktivität. «Mancherorts werden dann Ersatzwanderwege angelegt, die die Lebensräume noch mehr zerschneiden.» Und neue Zufahrten veränderten unweigerlich die Nutzung: «Heute müssen manche Landwirte warten, bis der Nachbar gemäht hat, weil nicht jede Parzelle eine Zufahrt hat. So können Insekten besser ausweichen. Nachher werden alle gleichzeitig mähen.»

Die Bauwirtschaft ist in Graubünden eine wichtige Branche mit grossem politischem Einfluss, viele Arbeitsplätze hängen von ihr ab. «Ich will niemandem etwas unterstellen», sagt Lenz, «aber die Ingenieure bekommen Prozente von den Gesamtkosten des Projekts. Das ist ein falscher Anreiz.» – «Dieser Vorwurf ist nicht fair», sagt Ivo Schätti von der ARGE Grünenfelder/Luzi, die das Projekt ausgearbeitet hat. «Die Honorierung nach Bausumme ist üblich. Als Ingenieurbüro suchen wir die beste Lösung für das Projekt unter Berücksichtigung aller Projektziele. Der Entscheid liegt aber bei der Bauherrschaft.»

Es gibt allerdings einen falschen Anreiz in viel grösseren Dimensionen: Gemeinden müssen für Gesamtmeliorationen fast nichts bezahlen. Rund vierzig Prozent übernimmt der Bund, dazu kommen laut dem Bündner Meliorationsgesetz noch bis zu fünfzig Prozent vom Kanton. An den fehlenden zehn bis zwanzig Prozent beteiligen sich oft noch gemeinnützige Organisationen. Betonspurstrassen sind zwar relativ teuer im Bau, aber günstig im Unterhalt, wie Stefan Battaglia erwähnt hat. Und «der Unterhalt soll nach Abschluss der Meliorationswerke in der Regel von der Gemeinde übernommen werden», heisst es im kantonalen Meliorationsgesetz.

Die fragwürdige Strassennormbreite von drei Metern kommt von ganz oben: vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). «Wenn wir schon relativ grosse Investitionen in den Wegebau tätigen, müssen wir in die Zukunft schauen», sagt Thomas Hersche, Fachbereichsleiter Meliorationen beim BLW. Die landwirtschaftlichen Fahrzeuge würden grösser, schwerer und breiter. «Selbstverständlich können Ausnahmen gewährt werden, etwa in sensiblen Gebieten.» Solche Ausnahmen mache man in Feldis einige, sagt Ivo Schätti. «Wenn man ein Biotop zerschneidet, das durch das Natur- und Heimatschutzgesetz geschützt ist, versucht man, möglichst wenig Fläche zu brauchen.»

Widersprüchliche Subventionen

Als Unterzeichnerin der Uno-Biodiversitätskonvention ist die Schweiz verpflichtet, Subventionen umzugestalten, die der Biodiversität schaden. Eine Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat 162 biodiversitätsschädliche Subventionen dokumentiert. Der Bund prüft nun 8 dieser Subventionen genauer und erarbeitet Reformvorschläge, auch zu den Geldern für Meliorationen.

«Sie sind ein typisches Beispiel für widersprüchliche Subventionen», sagt Lena Gubler, die Hauptautorin der Studie. «Man fördert eine rationelle Bewirtschaftung, indem man beispielsweise Parzellen zusammenlegt, zerstört damit ökologisch wertvolle Kleinstrukturen und versucht, ebendiese mit Biodiversitätsbeiträgen wieder künstlich zu schaffen.» Es sei zwar positiv, dass es laut Landwirtschaftsgesetz nur bei gleichzeitiger ökologischer Förderung Subventionen für Meliorationen gebe. «Aber genauere Kriterien, wie diese Förderung aussehen muss, fehlen. Und es gibt kein Monitoring von Meliorationen. Es wird also nicht untersucht, wie sie sich als Ganzes auf die Biodiversität auswirken.»

Landwirt Stefan Battaglia und Landwirtin Ursula Hofer
Gleiche Branche, unterschiedliche Meinung: Landwirt Stefan Battaglia sieht die Melioration positiv, Landwirtin Ursula Hofer hat Einsprache dagegen erhoben.
Verschiedene Wild-Blumen: Esparsette, Langspornige Handwurz, Blutroter Storchschnabel, Schwärzliche Knabenkraut
Wildplanzen welche in Feldis vorkommen: Die Esparsette, die Langspornige Handwurz, das Schwärzliche Knabenkraut und der Blutrote Storchschnabel (von oben links im Uhrzeigersinn).

Aus der Sicht der Artenspezialist:innen ist der Fall klar: «Unbefestigte Wege erhalten und nicht asphaltieren oder anderweitig befestigen», empfiehlt der Schlussbericht der Tage der Artenvielfalt. Doch das Dilemma, das Ursula Hofer angesprochen hat, bleibt. Wer leistet in Zukunft die riesige Arbeit für die Erhaltung dieser Wiesen? Und welche Bedingungen sind dafür zumutbar? Diese Frage drängt nicht nur in Feldis, sondern im gesamten Alpenraum. «Ferien?», fragt Stefan Battaglia rhetorisch. «Mache ich am Abend.» Die Familie gehe manchmal ohne ihn. «Ich muss jetzt entweder reduzieren, damit ich den Hof allein führen kann, oder vergrössern, damit ich jemanden anstellen kann.» Die Pflege der alpinen Biodiversität hängt an immer weniger Menschen. Und die arbeiten bis zur Erschöpfung.