Biodiversität: Vielfalt braucht andere Strukturen
Der Bauernverband bekämpft die Biodiversitätsinitiative, ökologisch orientierte Landwirtschaftsorganisationen befürworten sie – wie zu erwarten. Doch warum hat die bäuerliche Gewerkschaft Uniterre Stimmfreigabe beschlossen?
Da klebt eine Reihe weisser Punkte an einem dürren Grashalm. Es sieht künstlich aus, wie eine winzige Perlenkette. Doch es sind Eier. Sie stammen von einem seltsamen Insekt: dem Libellen-Schmetterlingshaft. Mit seinen zur Hälfte durchsichtigen, zur Hälfte hellgelben Flügeln sieht er tatsächlich aus wie eine Mischung aus Schmetterling und Libelle, obwohl er zur Ordnung der Netzflügler gehört. Im Frühsommer fliegt er auf trockenen, sonnigen Wiesen in zackigem Tempo umher, etwa im Wallis oder im Unterengadin. Hitze behagt ihm, darum gefällt es ihm hier am Südhang unterhalb der Kirche des kleinen Bündner Dorfs Feldis. Die Sonne brennt, manche Wiesen sind schon gemäht, auf anderen steht das Gras noch hoch. Weiter hinten weidet eine Ziegenherde am Waldrand.
Die Biodiversität ist aus vielen Gründen unter Druck: Die Bautätigkeit zerstört Böden und zerstückelt Ökosysteme, viele Gewässer sind für die Energiegewinnung verbaut worden, das wärmere Klima verdrängt Arten, invasive Gewächse und Tiere von anderen Kontinenten drohen Ökosysteme eintöniger zu machen. Es geht längst nicht nur um Landwirtschaft. Trotzdem dreht sich der Abstimmungskampf zur Biodiversitätsinitiative, die am 22. September an die Urne kommt, vor allem um Agrarfragen, und der Schweizer Bauernverband engagiert sich am lautesten dagegen. Auch wenn die Initiative allgemein formuliert ist – Bund und Kantone sollen dafür sorgen, dass «die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen» –, haben Bäuerinnen und Bauern nur schon deshalb eine besondere Verantwortung, weil sie auf über ein Drittel der Landesfläche direkt einwirken.
Fördern und zerstören
Feldis ist bekannt für seine Pflanzen- und Insektenvielfalt. Das liegt an den verschiedenen Klimazonen und Lebensräumen, die sich hier begegnen: warme Eichenwälder und Trockenhänge, kühle Sumpfwiesen und Lärchenwald. Aber auch daran, dass rund um das Dorf bis heute keine Güterzusammenlegung stattgefunden hat: Viele Parzellen sind klein und nicht für Fahrzeuge erschlossen (siehe WOZ Nr. 26/22). Darum hat hier das typische Nebeneinander von Nutzungen überdauert, das die Kulturlandschaft so vielfältig machte, bevor die grossen Landmaschinen aufkamen. Wird eine Wiese gemäht, können Insekten auf die nächste Parzelle ausweichen. Besonders vielfältig sind die Ränder der alten, nicht asphaltierten Wege. Hier hat der Schmetterlingshaft seine Eier abgelegt. Hätte die Gemeinde den Wegrand mit dem Fadenmäher geputzt, wären sie längst weg.
Die Tiere und die Pflanzen am Hang unter der Kirche sind auf Bewirtschaftung angewiesen: Ohne sie würde hier Wald wachsen. Doch die Pflege der kleinen Parzellen ist nur mit viel strenger Arbeit möglich. Darum befürworten die meisten Bewirtschafter:innen die geplante Güterzusammenlegung, für die auch neue Flurstrassen mit Betonspuren gebaut werden sollen. Unklar, ob der Schmetterlingshaft die Eingriffe überleben wird.
Feldis zeigt ein Paradox: Heute ist ein Schweizer Bauernbetrieb verpflichtet, mindestens sieben Prozent seines Bodens als Biodiversitätsförderfläche (BFF) zu bewirtschaften. Viele, vor allem im Berggebiet, machen mehr: Im Schnitt sind heute neunzehn Prozent der Landwirtschaftszone BFF. Dazu gehören etwa wenig gedüngte Wiesen, Hecken, Hochstammobstgärten oder Blühstreifen im Acker. Gleichzeitig gehen aber, ebenfalls vor allem im Berggebiet, weiterhin vielfältige Flächen verloren: Neue Flurstrassen werden gebaut, Flächen eingeebnet, Felsbrocken gesprengt, Wiesen stärker gedüngt oder gar nicht mehr bewirtschaftet, sodass sie zuwachsen.
Alle mähen am selben Tag
Die bäuerliche Gewerkschaft Uniterre kritisiert diese Entwicklung: Das von der Agrarpolitik verordnete Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und der Preisdruck seien zentral «für die Zerstörung vielfältiger Strukturen und eine zunehmende Entkoppelung der Nahrungsmittelproduktion von der Erhaltung der landwirtschaftlichen Biodiversität», schreibt die Organisation. Sie prangert «das Streben nach kurzfristigen Produktivitätssteigerungen durch Vergrösserung, Mechanisierung, Spezialisierung und räumliche und zeitliche Homogenisierung der landwirtschaftlichen Praktiken» an: So würden heute im Mittelland praktisch die ganzen Grünflächen innert weniger Tage gemäht.
«Seit über dreissig Jahren fördert die Politik das Bauernhofsterben», sagt der Genfer Gemüsegärtner und Uniterre-Aktivist Rudi Berli. «Das hat einen direkten Zusammenhang mit der Bedrohung der Biodiversität. Aber die Initiative erwähnt das Thema nicht.» Darum habe Uniterre Stimmfreigabe zur Vorlage beschlossen. Es sei absurd, die Industrialisierung der Landwirtschaft voranzutreiben und zur Kompensation Biodiversitätsförderflächen auszuscheiden. Nur mit diversifizierten Höfen sei es möglich, vielfältige Landschaften zu pflegen und regionale Kreisläufe, etwa beim Futter, zu erhalten. «Die Betriebe sollen Lebensmittel für ihre Regionen produzieren. Dann müssen auch nicht alle gleichzeitig mähen.»
Berli arbeitet bei den Jardins de Cocagne, dem ältesten Betrieb der solidarischen Landwirtschaft (Solawi) Europas, an dem 450 Haushalte beteiligt sind. Er sehe täglich auf dem Feld, dass Strukturfragen mit Biodiversität zu tun hätten, sagt er. «Wir könnten unsere Hecken besser pflegen, die Parzellen noch kleiner machen, was die Arten fördern würde, aber die Arbeitskräfte dafür fehlen. Wir bauen unser Lagergemüse noch selber an. Ökonomisch würden wir besser fahren, wenn wir es von einem spezialisierten Grossbetrieb beziehen würden – ökologischer wäre das sicher nicht.» Nötig sei eine «ökologische Intensivierung», die wieder mehr menschliche Arbeit in die Branche bringe. Würden solche Fragen nicht berücksichtigt, drohe bei einem Ja zur Initiative die Gefährdung der Biodiversität einfach ins Ausland ausgelagert zu werden.
Das ist ein Argument des Nein-Komitees, das der Bauernverband auch sonst bei jeder Gelegenheit vorbringt – etwa wenn der Pestizidgebrauch eingeschränkt werden oder Gewässer mehr Platz bekommen sollen. Doch das Dilemma dahinter ist real: Durch die Aktivitäten ihrer Konzerne und den Import von Konsumgütern verursacht die Schweiz mehr Biodiversitätsschäden im Ausland als hierzulande. Würde sie ihre Landwirtschaft extensivieren, ohne dass sich das Konsumverhalten veränderte, sähe das zwar für die inländische Umweltbilanz gut aus, die Zerstörung würde aber bloss verlagert.
Bauen schadet
Was sagt das Initiativkomitee zu den Bedenken von Uniterre? «Die Besorgnis über den Zustand der Biodiversität teilen wir natürlich», sagt Mediensprecher Manuel Herrmann. «Aber die Initiative richtet sich nicht gegen die Landwirtschaft, im Gegenteil.» Bei einem Ja bekäme diese mehr Mittel für den Schutz der Biodiversität. «Das würde hoffentlich auch den Effizienzdruck etwas vermindern.» Und auch ganz praktisch profitiere die Landwirtschaft, wenn es gut um die Biodiversität stehe, etwa um die Vielfalt der Bestäuberinsekten.
Zur Frage der Importe sagt Herrmann: «Untersuchungen von Agroscope zeigen, dass mit einer konsequenten Ausrichtung auf Ressourcenschonung der Selbstversorgungsgrad stark erhöht und die Umweltwirkungen der Ernährung mehr als halbiert werden könnten. Und natürlich sollten auch weniger Lebensmittel weggeworfen werden.» Wichtig sei auch, nicht zu vergessen: «Die grossen Flächen für die Landwirtschaft gehen nicht für Biodiversitätsförderung verloren, sondern weil so viel gebaut wird. Laut dem Bundesamt für Statistik entstanden zwischen 2009 und 2018 neun Zehntel der neuen Siedlungsgebiete auf ehemaligem Landwirtschaftsland.»
Andere bäuerliche Organisationen, etwa Bio Suisse oder die Kleinbauern-Vereinigung, befürworten die Biodiversitätsinitiative. Man plädiere für ein Ja, unterstütze den Abstimmungskampf aber aus Ressourcengründen nicht aktiv, sagt Patricia Mariani von der Kleinbauern-Vereinigung. Da der Initiativtext sehr offen formuliert sei, hänge vieles von der Umsetzung ab. «Wir brauchen mehr Mittel für eine ökologische Landwirtschaft, die Biodiversität und Produktion verbindet. Wir sollten das zusammendenken, nicht getrennt.»
Kritik an Biodiversitätsstudie : Gesamtbilanz positiv?
Es gebe keine Biodiversitätskrise, sagt der Bündner Biologe Marcel Züger. Er hat im Auftrag des Schweizer Bauernverbands (SBV) eine Studie verfasst, die den Abstimmungskampf gegen die Biodiversitätsinitiative unterstützen soll. «Natürlich gibt es noch Problemzonen, aber die Gesamtbilanz ist positiv», sagte Züger im Juli in einem NZZ-Interview.
Sofort kritisierten diverse Wissenschaftler:innen seine Aussagen. «Sie stehen als Einzelmeinung gegen den breiten Konsens der Wissenschaft», sagt Florian Altermatt. Er ist Professor an der Universität Zürich und am Wasserforschungsinstitut Eawag, ausserdem Präsident des Forums Biodiversität der Akademie der Wissenschaften. «Die Studie vermischt vieles, lässt wichtige Aspekte weg und kommt darum zu falschen Schlüssen.» Züger habe zwar recht, dass es positive Entwicklungen gebe: «Viele grosse Säugetiere und Greifvögel haben sich erholt, weil sie nicht mehr gejagt werden. Aber Arten, die gefährdet sind, weil ihre Lebensräume zerstört werden, nehmen weiterhin ab.» Um die Biodiversität steht es besonders in tiefen Lagen schlecht: Das ist wissenschaftlicher Konsens. Diverse Studien, etwa von Agroscope und vom Bundesamt für Umwelt, kommen zum selben Schluss.
Biodiversität – das Wort steht nicht nur für die Vielfalt der Arten, sondern auch für die der Lebensräume und der Gene sowie für die Interaktion zwischen diesen Ebenen. «Züger konzentriert sich in seiner Untersuchung fast nur auf die Artenvielfalt», sagt Altermatt. «Er hält richtigerweise fest, dass die Schweiz auf relativ kleiner Landesfläche eine hohe Artenzahl hat.» Das sage jedoch nichts über den Zustand der Biodiversität aus. Auch Zügers Schlussfolgerungen zu den Roten Listen gefährdeter Arten zeigten teilweise mangelndes Fachwissen.
Dass eine Studie, die für den Abstimmungskampf einer Lobbyorganisation entsteht, medial auf wenige Schlagworte reduziert wird, liegt auf der Hand. Wer sie allerdings genauer anschaut, stellt fest: Ihr Fazit ist gar nicht durchwegs positiv. Der SBV betont bei jeder Gelegenheit, die Landwirtschaft tue schon viel für die Biodiversität. Züger hingegen kritisiert die Qualität der Biodiversitätsförderflächen, die die Landwirt:innen auf ihren Betrieben pflegen müssen: «Ökoflächen werden dort angelegt, wo sie am wenigsten stören.» Die Pflege geschehe oft wenig behutsam, bei der Biodiversitätsförderung sei «Dienst nach Vorschrift» verbreitet.
Schlussfolgerungen, die dem SBV zu denken geben sollten – wenn ihm die Biodiversität wirklich so am Herzen liegt, wie er behauptet.