Leser:innenbriefe

Bildung und Umwelt
«Bildungspolitik: Belastung, Burn-out, Widerstand», «Gastbeitrag: Den Rechtsstaat untergraben», beide WOZ Nr. 22/24
So weit die beiden Beiträge zur Bildungspolitik und zum Urteil aus Strassburg zugunsten der Schweizer Klimaseniorinnen auseinanderzuliegen scheinen, so sehr haben sie doch einen gemeinsamen Nenner: Sie stimmen darin überein, dass die beklagten Krisen des Schulsystems und des Klimawandels nur dann wirklich zu bewältigen sind, wenn die Lösungen endlich vom Menschen her gedacht und entwickelt werden.
Überforderte Lehrpersonen, deren Burn-out, der Personal- und Ressourcenmangel und die sich für den Unterricht schon immer stellende Frage der Schaffung von Bildungsgerechtigkeit – die in völlig kontraproduktiver Weise durch Aussonderung derer zu bewältigen versucht wird, die den normativen Ansprüchen des Systems nicht entsprechen –, sind nicht die Ursache der beklagten Krise, sondern deren Folgen. Die Ursache der Krise ist, dass das Schulsystem zu einem System geworden ist, in dem die Kinder und Schüler:innen zur Ware der Pädagogik geworden sind und die Lehrpersonen zu Produktionsmittelbesitzern zum Zweck der marktgerechten Abrichtung der Kinder und Jugendlichen im Unternehmen Schule, um aus den Kindern kalkulier- und vernutzbares Humankapital zu machen, das Mehrwert zu bringen hat. Deshalb wird die Frage der Inklusion immer wieder als Quelle der beklagten Krisen des Schulsystems angesehen.
Genauso wenig, wie es abwegig sein soll, seitens des EGMR unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte Massnahmen zum Schutz des Lebens einzufordern, kann es abwegig sein, das Schulsystem in ein humanes und demokratisches umzubauen, wie es auch die von der Schweiz ratifizierte Uno-Behindertenrechtskonvention fordert, um Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Das bedeutet, kurz gefasst,
- in Einheit von Kindergarten und Primarschule,
- in altersgemischten Lerngemeinschaften,
- zieldifferent,
- in Projekten (und nicht in Fächern) an gemeinsamen Sachverhalten zu arbeiten,
- die aus den Lebenswelten der Kinder und Schüler kommen, aus ihren Fragen, Interessen und Motiven entstehen, Mensch und Welt erfahren, erkennen und verstehen zu lernen – und das weiterführend auch in den Sekundarstufen.
Ohne einen strukturellen Umbau des Schulsystems werden die Wehklagen aus diesem weiter tönen, als bliebe der Tonabnehmer eines Plattenspielers hängen. Vielleicht bedarf es auch dazu eines Urteils des EGMR.
Georg Feuser, per E-Mail
Wenn nicht, dann …
«Stadtplanung: Verdichtung klingt erst einmal gut», WOZ Nr. 21/24
Städtische Verdichtung sei eine «ökologische Notwendigkeit», schreibt der Autor im Artikel «Verdichtung klingt erst einmal gut». Obwohl fast alle Tatsachenfeststellungen und Schlussfolgerungen stimmen, ist die Prämisse doppelt falsch: Erstens gibt es keine ökologischen Notwendigkeiten. Es gibt höchstens sinnvolle Massnahmen zur Erzielung eines Gleichgewichts zwischen den Ansprüchen unserer Zivilisation und den zur Verfügung stehenden Umweltkapazitäten, also eine nachhaltige Entwicklung. Zweitens ist da die seltsam unkritische Hinnahme eines stetigen Bevölkerungswachstums als Begründung für das Wachstum von Wohnflächen. Dieses Wachstum ist kein Naturgesetz, und jede Gesellschaft kann das politisch steuern.
Deshalb ist auch die Annahme einer theoretischen 16-Millionen-Schweiz der ETH-Forscherin Sibylle Wälty völlig absurd. Denn der Mensch lebt nun einmal nicht vom Dach über dem Kopf allein. Nein, er braucht auch Brot und Spiele und Arbeit. Und all das ist immer auch mit Flächen-, Material- und Energieansprüchen verbunden. Bereits heute übernutzen wir unsere Umweltkapazität im Verhältnis 4 : 1, und mit jedem zusätzlichen Menschen kippt dieses Ungleichgewicht weiter in die falsche Richtung. Wenn wir unseren imperialen Lebensstil zu einem nachhaltigen transformieren, dann eröffnen sich neue Chancen. Wenn nicht, dann …
Uwe Scheibler, per E-Mail
Genèver Musikszene?
«Bad Bonn Kilbi: Brüllen oder nicht», WOZ Nr. 23/24
Die WOZ gehört seit Jahren zu meinen bevorzugten politisch-kulturellen Informationsquellen. Ihre Progressivität ist unbestritten, und es wäre schön, wenn diese auch voll auf die sprachliche Ebene durchschlagen würde. Zwar geisseln die famosen «woznews» den unfreiwilligen Humor in fremden (und selbst eigenen) Presseverlautbarungen – ein richtiges Lesevergnügen! Freiwillig, aber nicht besonders humorvoll wirken andererseits gewisse sprachliche Ungereimtheiten aus der eigenen Küche.
Alle WOZ-Autor:innen (oder ist es ein unbedarftes Korrektorat?) halten nämlich bis jetzt standhaft an gewissen reaktionären Zöpfen fest. Im Artikel «Brüllen oder nicht» ist die Rede u. a. von der «Fribourger Nachwuchsakademie». Man lasse sich diese sprachliche Missgeburt mal auf der Zunge zergehen: «Fribuurer Nachwuchsakademie» hiesse das in etwa … Wann folgt die «Genèver Musikszene»?
Es wäre für die WOZ an der Zeit, sich aus dem Klub gewisser ahnungsloser Deutschschweizer Käseblätter zu verabschieden, die im deutschsprachigen Text den seit 1157 gebräuchlichen, genuin deutschen Namen der Stadt an der Sprachgrenze immer noch nicht zu kennen vorgeben.
Jean-Pierre Anderegg, Freiburg/Schweiz