Gastbeitrag: Den Rechtsstaat untergraben
Das Urteil aus Strassburg zugunsten der Schweizer Klimaseniorinnen muss kritisiert werden können. Doch die Aufforderung der ständerätlichen Kommission an den Bundesrat, dieses nicht umzusetzen, rüttelt an der Gewaltenteilung, schreibt Altbundesrichter Niccolò Raselli.
Unzureichende Klimaschutzmassnahmen eines Mitgliedstaats der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bedeuten eine Verletzung der Menschenrechte: Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Grundsatzentscheid vom 9. April erklärt.
Konkret geht es um Artikel 8 der Konvention, der den Menschen das «Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens» garantiert. Gemäss dem Urteil verbürgt dieser Artikel den Bürgerinnen und Bürgern eines Mitgliedstaats auch das Recht auf Schutz vor den Folgen der Klimaerwärmung in Bezug auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität. Damit anerkennt der EGMR die kausale Verbindung zwischen Klimaschutz und Menschenrechten. Der Entscheid des Gerichts in Strassburg richtet sich zwar gegen die Schweiz – er ist aber für alle Staaten der EMRK richtungsweisend.
Urteile müssen kommentiert und kritisiert werden können. Die Kritik etwa, wonach der EGMR mit seinem Urteil das Recht auf Achtung des Privatlebens überdehnt habe, ist legitim. Ob dem auch so ist, ist allerdings eine andere Frage. Darauf wird zurückzukommen sein. Was allerdings gegenwärtig hinsichtlich des Klimaurteils hierzulande abläuft, hat mit legitimer Kritik wenig zu tun – stattdessen artet die Debatte allmählich zu einem unisono intonierten EMRK- beziehungsweise EGMR-Bashing aus. Und auf den Mann zu spielen, den Schweizer Richter am Gericht, wie es die NZZ machte, ist einfach schlechter Stil.
Zeitgemässe Auslegung
In der NZZ hielt Altbundesrichter Ulrich Meyer dem EGMR vor, ein politisches Urteil gefällt zu haben. In einem Interview mit der «SonntagsZeitung» haute Altbundesrichterin Brigitte Pfiffner später in die gleiche Kerbe. Ein schwerwiegender Vorwurf. Denn die Etikettierung eines Urteils als «politisch» unterstellt, dass politische Gesichtspunkte statt des Rechts ausschlaggebend gewesen sein sollen.
Nun gibt es Urteile, bei denen anzuwendendes Recht und politisches Handeln in einem Spannungsverhältnis stehen. Ein Urteil, das die Politik zum Handeln auffordert, ist indessen kein «politisches» Urteil, sofern es auf einer rechtlichen Basis beruht.
Nach der «grammatisch-historischen Auslegungsmethode» (sogenannte Originalismustheorie), die etwa der frühere US-amerikanische Richter Antonin Scalia vertrat, könne Artikel 8 der EMRK gegen klimatische Bedrohungen zwar nicht angerufen werden, weil im Zeitpunkt des Erlasses der Konvention im Jahr 1950 beziehungsweise der Ratifizierung durch die Schweiz 1974 niemand an solche Bedrohungen gedacht hat. Nun entspricht es allerdings durchaus schweizerischer Rechtspraxis, Normen zeitgemäss auszulegen, indem auf das Normverständnis und die Verhältnisse abgestellt wird, wie sie gegenwärtig, also zur Zeit der Rechtsanwendung, bestehen. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum es abwegig sein soll, unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, etwa der Achtung des Privatlebens, heute auch solche Massnahmen einfordern zu können, die dem Schutz des Lebens vor lebensbedrohlichen klimatischen Einwirkungen dienen.
In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht 2021 den Klimaschutz als justiziabel bezeichnet und erklärt hat, dieser gehöre zum Grundrechtsschutz und sei ein Menschenrecht. Das Gericht hat die Bundesregierung deshalb aufgefordert, effektive Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen.
In ähnlichem Sinn haben vor nicht allzu langer Zeit Gerichte in Frankreich und den Niederlanden geurteilt: 2019 hielt der niederländische Hoge Raad den Staat im sogenannten Urgenda-Fall dazu an, die Treibhausgasemissionen des Landes bis zum Ende des Jahres 2020 um 25 Prozent gegenüber dem Referenzjahr 1990 zu reduzieren. Und 2021 entschied das Verwaltungsgericht Paris, den französischen Staat treffe grundsätzlich eine Verantwortung für Versäumnisse im Kampf gegen die Klimakrise (die sogenannte Affaire du Siècle).
Ein verantwortungsloses Signal
Ist das Klimaurteil mit unserer Demokratie unvereinbar? Das behauptet SP-Ständerat und Rechtsprofessor Daniel Jositsch zumindest in einem Interview mit der NZZ sinngemäss. Weil die Bevölkerung das CO₂-Gesetz abgelehnt habe, sei es «äusserst problematisch, dass der EGMR diesen Volksentscheid übersteuert». SVP-Bundesrat Albert Rösti hat diesen Satz im «Tages-Anzeiger» unbesehen nachgebetet.
Die Argumentation mutet seltsam an. In unserer halbdirekten Demokratie kann die Bevölkerung letztinstanzlich entscheiden. In einer repräsentativen Demokratie hat das Parlament das letzte Wort. Wäre die Schweiz – wie die anderen Vertragsstaaten – eine repräsentative Demokratie und hätte sich das Parlament geweigert, völkerrechtlich gebotene klimatische Massnahmen zu ergreifen, wäre die Klage vom EGMR gewiss auch gutgeheissen worden. Warum das für die Schweiz anders sein soll, ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, vermögen doch Volksentscheide völkerrechtliche Defizite nicht beschwerderesistenter zu machen als Parlamentsbeschlüsse.
Die an den Bundesrat gerichtete Aufforderung der ständerätlichen Rechtskommission, das Urteil des EGMR nicht umzusetzen, rüttelt nicht nur an der Gewaltenteilung, sondern ist überdies ein verantwortungsloses Signal an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, Gerichtsurteile nach eigenem Gusto zu missachten, wenn sie einem nicht passen.
Das ständerätliche Vorgehen erinnert an Wladimir Putins Politik: Dieser hatte ein Gesetz bestellt, wonach Entscheidungen des EGMR nicht umgesetzt werden dürfen, wenn sie mit der russischen Verfassung nicht vereinbar sind. (Seit Mitte März 2022 ist Russland nicht mehr Mitglied des Europarats.) Die Aufforderung, das Urteil des EGMR nicht umzusetzen, untergräbt den Rechtsstaat.
Niccolò Raselli (79) war von 1995 bis 2012 Ordentlicher Richter am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne.