Bildungspolitik: Belastung, Burn-out, Widerstand
Für den kommenden Samstag ruft eine Gruppe kritischer Lehrpersonen zur grossen Bildungsdemo in Zürich auf. Es geht um fehlende Ressourcen – und die problematische Rolle der Schule im Kapitalismus.
Es war Ende März, als das Kollektiv Kritische Lehrpersonen (Krilp) erste Flyer mit dem Aufruf zur Bildungsdemo verschickte. Ein klug gewählter Zeitpunkt, denn der 31. März ist der Termin, auf den Lehrpersonen im Kanton Zürich jeweils kündigen, wenn sie ihre Stelle aufs nächste Schuljahr hin aufgeben wollen.
«Dann hört man im Teamzimmer immer: Der hat gekündigt, die hat reduziert», erzählt Flo Steiner*, die in der Stadt Zürich unterrichtet. Und auch Jonas Bühler, Lehrer in Winterthur, sagt: «An meiner Schule gab es dieses Jahr sowohl Pensumreduktionen als auch Kündigungen. Von den Kolleg:innen, die gingen, sagten einige ganz klar, dass ihnen alles zu viel sei.» Genau diese Symptome einer Krise im Bildungswesen griff der Flyer der Kritischen Lehrpersonen auf.
620 Lehrpersonen ohne Diplom
Jonas Bühler und Flo Steiner, die ihren richtigen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, sind Teil des Kollektivs Kritische Lehrpersonen, das die Bildungsdemo von kommendem Samstag in Zürich organisiert. Die Gruppe entstand 2019 unter dem Eindruck des Frauenstreiks und aus dem Bedürfnis heraus, sich auszutauschen. Seither treffen sich die Lehrpersonen regelmässig, um ihren Alltag, das Bildungssystem und die eigene Rolle darin zu reflektieren. Die Bildungsdemo ist die erste grössere Aktion, die das Kollektiv selber organisiert – und die das Interesse von Jonas Bühler weckte.
Er habe sich gefreut, als er von der geplanten Demo erfahren habe, erzählt der 26-Jährige. «Ich hatte den kämpferischen Geist unter den Lehrpersonen ein bisschen vermisst.» Seit einem knappen Jahr unterrichtet Bühler eine dritte Primarklasse. Sein Job gefalle ihm, er sei jedoch auch sehr anstrengend. Dass die Schulen in einer Krise stecken, war ihm vor dem Stellenantritt im Sommer bereits bewusst. So arbeitet er etwa achtzig statt hundert Prozent, weil ihm während des Studiums Dozierende, Mitstudierende und Lehrpersonen von einem Vollzeitpensum abrieten. «Alle meinten: Tu das nicht, sonst machst du dich kaputt.» Seine eigene Schule meistere die Herausforderungen gut, findet Bühler. Er fühle sich vom Team und von der Leitung unterstützt. «Und trotzdem sind auch hier Leute überlastet – man mag sich gar nicht vorstellen, wie das in anderen Schulen aussieht.»
Eine Kennzahl verrät etwas darüber, wie es aussieht: 620. So viele Personen ohne Lehrdiplom waren vergangenen Sommer zum Schulstart im Kanton angestellt. Im nächsten Schuljahr dürfte sich das im selben Rahmen bewegen, schreibt das Volksschulamt auf Anfrage. Personen ohne Diplom springen ein, weil die freien Stellen nicht mit ausgebildeten Lehrkräften besetzt werden können. Der Lehrer:innenmangel sorgt dafür, dass die Arbeitsbelastung der verbleibenden Lehrpersonen steigt, was wiederum dafür sorgt, dass Lehrer:innen ihre Pensen reduzieren, um sich vor Burn-outs zu schützen. Die Überlastung, da sind sich von den Krilp über die Gewerkschaft VPOD bis zum Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) alle einig: Sie ist momentan das Hauptproblem an den Schulen im Kanton.
Individualisierung ohne Ressourcen
Doch wo liegen die Ursachen dieses Teufelskreises? Abgesehen vom oft zitierten allgemeinen Fachkräftemangel, der unter anderem mit der Pensionierungswelle in der Babyboomergeneration zusammenhängt, hätten die Probleme auch mit den hohen Erwartungen der Gesellschaft an die Schule zu tun, meint Christian Hugi. Der Präsident des ZLV, der knapp 5000 Mitglieder zählt, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Lehrer. Die Individualisierung der Schule, also die Erwartung, dass Lehrpersonen auf jedes Kind einzeln eingehen, führe meist dazu, dass bei den Lehrpersonen sehr viel Arbeit anfalle. «Die Ressourcen, die nötig wären, um allen Erwartungen gerecht zu werden, stehen heute nicht ausreichend zur Verfügung.»
Ein Beispiel für die Individualisierung ist die Inklusion. Das Kollektiv Kritische Lehrpersonen spricht sich klar für eine inklusive und diskriminierungsfreie Schule aus. «Die Zeiten, in denen man einem Kind sagte, es soll ruhig sein und sich in die Ecke stellen, sind zum Glück vorbei», sagt etwa Jonas Bühler. Auch er findet: «Wir haben aktuell einfach zu wenig finanzielle Ressourcen für alle Ansprüche.»
Lehrpersonen schafften es häufig nicht, den individuellen Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden, sagt Bühler. So komme es manchmal vor, dass er am Morgen in der Schule erfahre, dass die Heilpädagogin oder die Klassenassistenz ausfalle – dann sei er mit 22 Kindern alleine. «Vielleicht taucht dann noch ein Kind nicht auf, und ich muss telefonieren, eventuell sogar das Kind suchen gehen. Oder ein Schüler trifft total durcheinander in der Schule ein, und ich muss ihn beruhigen.» Die Verantwortung trage er aber für die ganze Klasse. Natürlich höre er oft, früher seien die Klassen noch viel grösser gewesen, und da sei es auch gegangen. «Aber das war ein komplett anderer Unterricht und nicht das, was wir heute an den Schulen machen wollen.»
Folglich fordert das Kollektiv mehr Mittel, um den Problemen im Schulsystem zu begegnen. Es brauche Förderressourcen, damit die Inklusion gelinge, kleinere Klassen und Geld für Teamteachings. Christian Hugi vom ZLV pflichtet vielem bei: «Die Entlastung von Klassenlehrpersonen verlangen wir schon lange.» Sein Verband unterstützt auch die Forderung nach einer Anerkennung des Vollzeitpensums von Kindergartenlehrpersonen, die bislang etwa von ihnen begleitete Pausen nicht als Arbeitszeit anrechnen dürfen. Zur Bildungsdemo aufgerufen hat der ZLV aber nicht, bloss eines seiner Mitglieder: Der Verband Kindergarten Zürich hat den Aufruf zur Demo geteilt.
Man verfolge als Berufsverband einen anderen, weniger aktivistischen Ansatz, sagt Hugi. «Wir haben in den letzten Jahren viel in die politische Überzeugungsarbeit und den direkten Austausch mit Entscheidungsträger:innen investiert und sehen nun, dass Bewegung in die wichtigen Themen kommt.» Tatsächlich hat die Zürcher Bildungsdirektion im vergangenen Jahr Vorschläge für verbesserte Anstellungsbedingungen von Lehrpersonen in die Vernehmlassung geschickt. Diese bleiben aber weit hinter den Forderungen von Verband und Aktivist:innen zurück.
Lehrpersonen sind nicht unbedingt bekannt für ihre Arbeitskämpfe – das gilt zumindest für die Deutschschweiz. In der Romandie demonstriert das Lehrpersonal, und es streikt auch ab und zu, so geschehen etwa im vergangenen Jahr im Kanton Waadt. Doch auch in der Deutschschweiz bewegt sich gerade einiges: So trugen etwa im Februar dieses Jahres Lehrpersonen im Kanton Schwyz ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen auf die Strasse. Im Kanton Bern lancierte der Berufsverband eine Volksinitiative, um den drängenden Problemen zu begegnen. «Auch wenn die Voraussetzungen in allen Kantonen unterschiedlich sind, zeigen sich doch grundlegende Probleme wie die Überbelastung von Lehrpersonen in der ganzen Schweiz», sagt dazu Christian Hugi.
Schule im Kapitalismus
Die Positionen der Kritischen Lehrpersonen gehen aber über das hinaus, was Berufsverbände fordern. So führen sie den steigenden Leistungsdruck auf die Schüler:innen darauf zurück, dass das Schulsystem zu stark auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet sei. Und sie hätten einen breiteren Bildungsbegriff, meint Flo Steiner. «Für uns ist klar, dass auch Leute, die in der Betreuung arbeiten, pädagogische Aufgaben übernehmen.» Gleichzeitig sehe man den Lehrberuf auch als eine Form der Care-Arbeit.
Auch deshalb hat sich das Kollektiv für die Demo nicht nur mit dem VPOD zusammengetan, der im Kanton Zürich rund tausend Lehrpersonen vertritt, sondern auch mit dem Forum für kritische Soziale Arbeit und der «Trotzphase», einer Gruppe von Fachpersonen aus der Kinderbetreuung. «Wir Angestellte im Bildungs- und Betreuungsbereich leiden alle unter ähnlichen strukturellen Problemen», sagt die 28-jährige Lehrerin.
Für Steiner ist klar, dass man auf einer viel grundlegenderen Ebene ansetzen müsste, um die Ursachen der Krise anzugehen. «Das Grundproblem ist die Art und Weise, wie die Schule im Kapitalismus funktioniert», so die Lehrerin. Bildungsinstitutionen hätten immer auch die Aufgabe, zu selektionieren. «Anders gesagt: Chancengerechtigkeit endet immer an den Grenzen des Kapitalismus.»
* Name geändert.