Bad Bonn Kilbi: Brüllen oder nicht

Nr. 23 –

Früher «Wir gegen alle», heute denkt Crème solaire über Möglichkeiten des radikalen Zusammenseins nach. An der Bad Bonn Kilbi in Düdingen hat das Elektropunkduo ein berauschendes Konzert gespielt.

Rebecca Solari von Crème solaire im Menschen-Gewühl
Nah am Publikum: Rebecca Solari von Crème solaire im Gewühl vor der grossen Bühne. Foto: Elia Meier

Es ist eine eigenartige Choreografie an diesem Sonntagmorgen, wie eine Handvoll Traktoren einen festgefahrenen Camper nach dem anderen aus dem Matsch ziehen, bis Park- und Zeltplatz irgendwann leer sind, ein aufgerissenes Schlammfeld unter der grauen Wolkendecke. Die letzte kleine, beiläufige Show an dieser Bad Bonn Kilbi 2024, los, Abmarsch, alle heim jetzt. Und man steht übermüdet da und ist drauf und dran, kitschige Dinge zu denken über das Gemeinsame durch die Musik und all ihre Möglichkeiten, an diesem von Problemen nicht freien, aber doch sehr friedlichen Ort.

An einem verhangenen Montagmittag ein paar Tage zuvor steht Rebecca Solari in Fribourg auf der Bühne des «Fri-son» und schreit, neben ihr Pascal Stoll. Sonst ein leerer Saal bis auf zwei Techniker für Ton und Licht. Es ist kurz vor dem Mittagessen, und man kann kaum glauben, welche Energie Solari aufbringt, den Raum damit füllt. Solari und Stoll sind zusammen Crème solaire, hier proben sie ihren Auftritt an der Kilbi.

Im Kern die Freundschaft

Im Frühling ist mit «Cemento» bereits ihr viertes Album innert fünf Jahren erschienen. Elektropunk könnte man das der Einfachheit halber nennen, irgendwie auch Performancekunst; der Liveauftritt spielte von Anfang an eine grosse Rolle bei Crème solaire. Zwischen den drei ersten Alben, «Bleu c’est bien» (2019), «Bébé?» (2020) und «Pannenstreifen ist ohne Pic-Nic» (2021), und «Cemento» gab es erst mal eine Pause: «Ich bin mehr so ‹chill›, und Rebecca ist mehr so ‹go!›. Es ist nicht immer einfach, so gegensätzlich zu sein», sagt Stoll. Die Pause sei schwierig gewesen, aber, meint Solari: «Sie war wichtig, damit der Kern des Projekts unsere Freundschaft bleibt.»

Dieses ungleiche Duo fand seinen Anfang in der Fribourger Nachwuchsakademie La Gustav, wo Stoll und Solari 2018 einen einjährigen berufsbegleitenden Musiklehrgang absolvierten. Sie wurden damals vom Kursleiter zusammen eingeteilt, weil sie, wie Stoll sagt, «die zwei Komischen im Jahrgang» gewesen seien. Stoll ist Gitarrist und spielt noch in fünf, sechs weiteren Projekten. Mit Crème solaire hat er zum ersten Mal auch angefangen, mit Elektronik und Effekten herumzuspielen. Solari hingegen meint, sie sei eigentlich gar nicht so eine musikalische Person, höre auch nicht besonders viel Musik. «Die Performance ist für mich viel wichtiger», und das ergibt, sieht man sie auf einer Bühne, auch vollkommen Sinn.

Kilbi im September

Diese Ausgabe der Kilbi war die (vorerst) letzte, die Anfang Juni stattfand. Ab 2025 wird das Festival jeweils im frühen Herbst über die Bühne gehen, nächstes Jahr vom 4. bis 6. September; Programmverkündigung und Tickets, in den letzten Jahren immer im Nu ausverkauft, gibt es am 12. März 2025. Grund für die Verschiebung ist ein Interessenkonflikt mit einem benachbarten Bauern, dem ein Teil des Kilbi-Geländes sowie die Zufahrtsstrasse gehören; die Festivalgänger:innen behinderten den Zugang zu seinen Erdbeer- und Spargelfeldern. «Wir finden Veränderung eigentlich immer gut. Gerade auch, wenn sie von aussen kommt», sagt Programmchef Daniel Fontana dazu. Ob ganz zu Beginn oder ganz zum Schluss der Festivalsaison – die Kilbi bleibt sicher so oder so ein schönes Spiel.

An der Kilbi spielen Crème solaire am Donnerstagabend um zehn Uhr auf der Hauptbühne, Primetime. Die riesige Bühne zu bespielen, ist nicht nur einfach, nicht nur für dieses Duo: Im Gegensatz zur kompakteren Zeltbühne und dem engen, immer dicht gedrängten Haus braucht es hier viel, um sie auszufüllen, um das Publikum zu halten, das sich mit dem Geläuf an der Bar, bei den Stehtischen und dem Merchandisestand vermischt. Man kann hier leicht nur halb zuhören oder sich in Gespräche verwickeln lassen, bis das Geschehen auf der Bühne in den Hintergrund rückt.

Jaulen und Fauchen

Die grosse Bühne braucht Präsenz. Wie unterschiedlich das geht, zeigt sich auch an dieser Kilbi wieder. 222Rn etwa, eine ganz neue Band, bestehend aus den drei Zürcherinnen von Radon und den drei Luzernern von Film 2: Sie füllen die Bühne bis fast ganz an den Rand, zweimal Bass, zweimal Gitarre, zweimal Schlagzeug, mit richtig viel Platz für jeden einzelnen Charakter, für diesen eindringlich und ernsthaft gespielten, auch zerbrechlichen Doom-Metal-Entwurf. Oder das Internetphänomen Yeule aus Singapur, allein vorne im Scheinwerfer an der Gitarre, gleich dahinter das Schlagzeug – das reicht dann auch schon für diese gross angerichteten, wunderbar verglitchten Emopopsongs. Besonders eindrücklich auch beim fast achtzigjährigen Ustad Noor Bakhsh aus dem pakistanischen Belutschistan nah an der iranischen Grenze: Er spielt Benju, ein der Zither ähnliches Saiten- und Tasteninstrument, das in der Musik dieser Gegend eine wichtige Rolle spielt; zusammen mit seinen beiden Mitmusikern, jeweils an der Tambura, sitzt er etwas erhöht in der Mitte der Bühne auf einem Teppich. Es gibt kaum Bewegung bei diesem Konzert, trotzdem findet diese verspielte, lustig fliegende Hochzeits- und Festmusik ein begeistertes Publikum.

Und Crème solaire? Sie hätten sich schon überlegt, mit einer grossen Band anzureisen, etwas Spezielles oder zumindest anderes zu machen für die Kilbi. «Aber dann dachten wir: Wir wollen einfach die Bühne geniessen», sagt Solari. Also spielen sie zu zweit, wie immer, Stoll der Ruhepol rechts mit Gitarre und Gerät; Solari überall sonst, sie schreit, jault, faucht, auf Französisch, Englisch, Italienisch, Deutsch, spielt mit vollem Körpereinsatz ein verausgabendes Set. Am besten funktioniert das allerdings nicht auf der Bühne, wo es manchmal wirkt, als sei die Distanz zwischen ihnen und dem Publikum doch schwer zu überwinden. Sondern dann, wenn Solari sich ins Gewühl stürzt, sich einen Weg bahnt durch die Menge, also ganz nah an den Leuten ist. Dann gelingt das, was Solari und Stoll wohl gemeint hatten im Gespräch: dieser Wunsch, nicht gegen das Publikum zu arbeiten, sondern mit ihm. Hier heisst das auch, sich in diesem (leider hauptsächlich aus Männern bestehenden) Moshpit zu behaupten, aber doch Teil davon zu sein; nicht aggressiv, aber selbstbestimmt.

Eine Art Klebstoff

Wie kann ein funktionierendes, radikales Kollektiv aussehen? Die Frage beschäftigt Solari und Stoll. In letzter Zeit hätten sie oft darüber nachgedacht, wieso sie überhaupt Musik machten. «Wir haben gemerkt, dass wir unsere Wut nicht mehr einfach so rausbrüllen, sondern auch ausprobieren wollen, was Leute zusammenbringen kann», sagt Stoll. Früher habe sich ein Auftritt eher wie eine Konfrontation angefühlt. «Wir waren so oft an irgendwelchen Familienfesten und haben um vier Uhr nachmittags auf der Bühne rumgeschrien, die Leute vertrieben, sie doch irgendwie halten wollen. Das hat sich in den letzten Jahren verändert. Wir sind nicht mehr ‹Crème solaire gegen alle›. Unsere Musik soll auch eine Art Klebstoff sein», sagt Solari.

Musik als Möglichkeit zu Zusammenhalt oder Transformation und die Grenzen davon: Das gibt Raum für allerhand Floskeln und Geschwätz, trotzdem denkt man auch jetzt wieder darüber nach an dieser verregneten Kilbi mit ihrem fokussierten, gut gelaunten Publikum. Rebecca Solari sagt: «In unseren Songs spielen wir oft mit der Idee, dass wir im Grunde alles Mögliche sein könnten, Menschen, Hexen oder Hündinnen. Oder was du eben willst. Und weil wir das in unseren Liedern erforschen, tut sich da irgendwo ein Spalt auf: Das ginge doch auch auf der Bühne, und dann vielleicht sogar im Alltag?» Sie sagt es ganz nüchtern und nachdenklich, mit Kitsch hat das fast gar nichts zu tun.

Albumcover «Cemento» von Crème solaire
Crème solaire: «Cemento». Irascible. 2024.