Parlamentswahlen in Frankreich: «Die Strategie könnte aufgehen»

Nr. 25 –

Während das Rassemblement National in Frankreich auf einen Sieg bei den Parlamentswahlen zusteuert, verbündet sich die Linke in Rekordzeit. Die Soziologin Safia Dahani erklärt das politische Erdbeben.

WOZ: Safia Dahani, am vergangenen Wochenende demonstrierten in Frankreich Hunderttausende gegen den Rechtsruck und das Rassemblement National (RN). Waren Sie auch auf der Strasse?

Safia Dahani: Ja, ich war am Wochenende unterwegs – nicht beruflich, sondern als Privatperson. Die aktuelle Mobilisierung, die von den Gewerkschaften, von Parteien, aber auch von der Zivilgesellschaft getragen wird, ist bemerkenswert. Die Menschen sind sich der Tatsache bewusst, dass wir ab dem 7. Juli möglicherweise von einem neofaschistischen Premierminister regiert werden. Die Proteste erinnern in ihrem Ausmass an die Präsidentschaftswahlen von 2002, als die Partei noch Front National (FN) hiess und Jean-Marie Le Pen es überraschend in den zweiten Wahlgang schaffte.

Am 7. Juli, wenn der zweite Wahlgang der kurzfristig angesetzten Neuwahlen ansteht, könnte das RN als Sieger hervorgehen. Von Präsident Emmanuel Macron bis zum Fussballer Kylian Mbappé scheinen sich in Frankreich viele einig darüber zu sein, dass die aktuelle Situation historisch sei. Stimmen Sie dem zu?

Die Auflösung der Nationalversammlung an sich ist nicht aussergewöhnlich, das gab es schon mehrere Male. Beispiellos ist, dass Macron die Auflösung nach einer Europawahl bekannt gab, und das in einem Moment, in dem die extreme Rechte bereits stark mobilisiert ist und eine Mehrheit der Sitze gewinnen könnte.

Und das Rassemblement National ist so stark wie nie zuvor.

Viele waren überrascht darüber, dass das RN als stärkste Partei aus den diesjährigen Europawahlen hervorging. Tatsächlich machte das RN aber bereits 2019 und 2014 die besten Resultate. Überraschend ist also lediglich das Ausmass des Erfolgs.

Soziologie der Rechten

Safia Dahani (32) ist Postdoktorandin in Soziologie an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Sie ist Expertin für die extreme Rechte und die Partei des Front National / Rassemblement National, über die sie ihre Dissertation in Politikwissenschaft schrieb. Zudem befasst sie sich auch mit Jugend- und Mediensoziologie. 2023 hat Dahani gemeinsam mit anderen Autor:innen einen Sammelband über die politische Soziologie des Front National herausgegeben, der bisher nur auf Französisch erschienen ist.

Aktuelle Umfragen prognostizieren, dass auch bei den anstehenden Neuwahlen der Nationalversammlung ein Drittel der Wähler:innen ihre Stimme dem RN geben werden.

Bei Umfragen sollten wir immer darauf achten, wer sie zu welchem Zeitpunkt gemacht hat. Wer wählt und wer nicht, unterscheidet sich je nachdem, was es für eine Wahl ist. Ausserdem gibt es ein weiteres wichtiges Element, über das wir nie sprechen: die Enthaltung. Selbst wenn 32 Prozent der Wähler:innen für den RN-Chef Jordan Bardella stimmen, gibt es immer noch mehr als 40 Prozent, die gar nicht wählen. Es stellt sich die Frage, ob und wie die Linke diese Gruppe noch mobilisieren kann. Aber ja, es bleibt dabei: Es haben ein Rechtsruck und eine «extrême droitisation» des politischen Lebens stattgefunden.

Was meinen Sie mit «extrême droitisation»?

Das umfasst verschiedene Entwicklungen, darunter etwa die, dass sich die französischen Rechtsparteien weiter nach rechts bewegten. Früher waren es eher lokale und kleine Parteikader, die sich mit der extremen Rechten verbanden, heute tun das zunehmend auch wichtige Führungspersonen. Vor einer Woche kündigte der Präsident der Rechtspartei Les Républicains an, er wolle eine Allianz mit der extremen Rechten eingehen.

Gleichzeitig wurden, wie anderswo in Europa auch, Positionen der extremen Rechten von Bürgerlichen übernommen.

Genau. Macron hat während seiner Präsidentschaft versucht, Gesetze zu verabschieden, die sich anhörten, als kämen sie vom RN. Zum Beispiel wurde bei seinem vor wenigen Monaten verabschiedeten Einwanderungsgesetz über die «nationale Präferenz» diskutiert, also den Vorrang von Französinnen und Franzosen, seit den siebziger Jahren ein Hauptthema des FN/RN.

Der Philosoph und Autor Didier Eribon sagte 2017: «Wer für Macron stimmt, stimmt für Le Pen.» Hat Macron mit seiner Politik den Weg für die extreme Rechte geebnet?

Ja, aber er ist nicht der Einzige. Bereits Nicolas Sarkozy, der in den nuller Jahren zum Präsidenten gewählt wurde, begann, über Migration als eine Gefahr zu sprechen. Sarkozy versuchte damit, die Rechtsextremen zu schwächen und deren Wähler:innen zu gewinnen. Doch das hat nicht funktioniert.

Aber dann bleibt immer noch die Frage, wie es zu dieser starken Zunahme seit den Wahlen vor zwei Jahren kommen konnte. Sollten die Umfragen stimmen, käme es zu einem Zuwachs von 18 auf 32 Prozent für das RN.

Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Radikalisierung einer vormals rechten Wähler:innenschaft, die zunehmend die extreme Rechte wählt und die dem RN mittlerweile auch treu ist. Aber wie gesagt: Bei den Umfragen müssen wir vorsichtig sein. Gerade die Linke wurde in der jüngeren Vergangenheit in Umfragen zum Teil unterschätzt.

Was liegt dieser Radikalisierung zugrunde?

Mein Kollege Félicien Faury hat kürzlich ein Buch über die Wähler:innenschaft des RN veröffentlicht und bestätigt darin meine eigenen Beobachtungen: Wenn man verstehen will, warum die Menschen für die extreme Rechte stimmen, muss man verstehen, wie Rassismus ihre Sicht auf die Welt und die Gesellschaft prägt. In der Unterschicht sind die Gefühle der Unsicherheit und des drohenden Abstiegs, das Gefühl, dass man in der Gesellschaft nichts zähle, Gründe, das RN zu wählen. Die Teile der Oberschicht, die für die extreme Rechte stimmen, haben konservative Beweggründe: Sie wollen bewahren, was sie haben. Der verbindende Hauptfaktor ist aber der Rassismus, der sich unterschiedlich ausdrückt.

Sind heute mehr Menschen rassistisch?

Der Rassismus wird nicht mehr versteckt. Die Wahl einer rechtsextremen und rassistischen Partei ist mittlerweile sozial akzeptiert. Als ich Führungspersonen der extremen Rechten untersuchte, erzählten mir einige, die bereits seit den achtziger Jahren in der Partei tätig waren, dass sie das damals verheimlicht hatten. Sie fürchteten, ihren Job oder ihre Freunde zu verlieren. Heute schämen sie sich nicht mehr für ihr Engagement. Man sieht sie auf der Strasse, man hört, wie sie sich in der Metro rassistisch äussern. Das ist normal geworden.

Es gibt aber auch Expert:innen, die zum gegenteiligen Schluss kommen, die sagen: Gerade neue Wähler:innen des RN nehmen die Partei nicht mehr als rassistische oder rechtsextreme Partei wahr und sind folglich auch nicht unbedingt rassistisch motiviert.

Menschen wählen eine Partei nie nur aus einem Grund. Ich verlasse mich auf die Arbeit von Kolleg:innen, die sich stark auf Langzeitstudien über Wähler:innen stützen und weniger auf Umfragen. Untersucht man die Soziologie der FN/RN-Wähler:innen, wird deutlich, dass Rassismus ein wichtiger Treiber ist.

Abgesehen von der Normalisierung seiner Positionen gelang dem Front National ja auch ein Rebranding. Die Partei benannte sich in Rassemblement National um und verschaffte sich, anscheinend mit Erfolg, ein hippes, seriöses Image.

Was sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren getan hat, ist, dass das RN verstärkt politische Profis aus rechten Parteien rekrutieren konnte sowie Leute, die früher in der politischen Kommunikation arbeiteten. Doch im Kern hat sich die Partei seit den achtziger Jahren nicht wirklich verändert. Sie organisiert sich immer noch auf dieselbe Weise, es sind oft noch dieselben Leute. Und ja, ihre Vertreter:innen behaupten, sie seien nicht rassistisch und die Partei nicht von Neonazis gegründet worden. Was sie sagen, ist falsch – aber viele Medien und Parteien widersprechen ihnen nicht mehr.

Das war früher anders?

In den achtziger Jahren, als Jean-Marie Le Pen zu Fernsehdebatten eingeladen wurde, gab es Proteste, Zeitungen riefen zum Boykott auf. Damals wurde Le Pen stets als einer von der extremen Rechten bezeichnet. Heutzutage hören sich viele Journalist:innen an, was die Vertreter:innen des RN zu sagen haben und korrigieren sie nicht. Einige übernehmen Begriffe wie «Français de papier» also Menschen, die nur auf dem Papier Französinnen und Franzosen seien, was typisch für die Art und Weise ist, wie der FN seit den siebziger Jahren über Einwander:innen der zweiten Generation spricht. Und führende Köpfe der Rechten wie Valérie Pécresse von Les Républicains sprechen über den «Bevölkerungsaustausch», eine rechtsextreme Verschwörungstheorie. Meiner Meinung nach ist die Rolle der Medien und anderer Parteien wichtiger als das, was innerhalb des RN passierte.

Sie meinen, das Rebranding der Partei hat deshalb so gut funktioniert, weil praktisch alle mitgemacht haben?

Genau. Es hätte ja auch sein können, dass ihr das niemand glaubt.

Könnte das Bündnis «Nouveau Front populaire», in dem die Linke sich vereinigt hat, eine Antwort auf den Aufstieg der extremen Rechten sein? Vielleicht sogar eine Chance für die in Frankreich ansonsten chronisch zerstrittene Linke?

Nach Macrons Ankündigung, die Nationalversammlung aufzulösen, schafften es die Linken innerhalb von vier Tagen, eine Allianz zu bilden, was wirklich überraschend gewesen ist. Obwohl die Parteien immer noch viele Differenzen haben, etwa bei der Frage, wie sie regieren würden, konnten sie sich immerhin auf ein gemeinsames Programm einigen. Und in mehr als 95 Prozent der Wahlkreise wird es nur einen einzigen linken Kandidaten oder eine einzige linke Kandidatin geben. Die Umfragen prognostizieren derzeit, dass das Bündnis nicht weit hinter der extremen Rechten liegt. Wenn sich noch einiges verschiebt, könnte die Strategie durchaus aufgehen. Es gibt also Hoffnung für die Wähler:innen.