Wie Weiter?: Vom Poker zum Schach
In Frankreich hat am Sonntag das Linksbündnis gewonnen. Der Jubel könnte allerdings von kurzer Dauer sein – denn das Regieren ist dadurch nicht einfacher geworden.
Ein Aufschrei der Freude, grenzenloser Jubel, Ausgelassenheit, erleichtertes Aufatmen: Als am Sonntag um Punkt 20 Uhr die bunten Balken in die Höhe schossen, weil die Fernsehstationen die ersten Ergebnisse der Parlamentswahlen präsentierten, hätte man meinen können, Kylian Mbappé habe soeben in letzter Sekunde ein Tor geschossen und Frankreich zum Fussballeuropameister gemacht.
All der Jubel an jenen Orten im Land, an denen die Unterstützer:innen der Linken zusammengekommen waren, galt allerdings nicht der Nationalmannschaft, sondern der Neuen Volksfront. Jenem Bündnis, das bereits 24 Stunden nachdem Präsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen angekündigt hatte, wie ein Phönix aus der Asche auf der politischen Bühne auftauchte. Allein das war schon überraschend – wenn man bedenkt, dass jahrelanger Zwist unter den linken Parteien in Windeseile beigelegt schien.
Noch überraschender aber war dann der grosse Sieg des Nouveau Front populaire (NFP) selbst. Und die Tatsache, dass Macrons zentristisches Lager am Rassemblement National (RN) vorbeizog und die Partei von Marine Le Pen damit auf den dritten Platz verwies. Der Traum ihres Ziehsohns Jordan Bardella, neuer Premierminister zu werden, ist also geplatzt, die Hoffnung auf eine absolute Mehrheit im Parlament begraben.
Macron wider Willen
Fast könnte man vergessen, dass das RN zu seinen bislang 89 Sitzen 54 neue hinzugewonnen hat – und damit so viel Platz im Parlament einnehmen wird wie noch nie. Ebenso ist man geneigt zu vergessen, dass er mit insgesamt zehn Millionen Stimmen in absoluten Zahlen noch immer vor den anderen Parteien liegt. Nur das französische Wahlsystem mit seinen zwei Wahlrunden und dem Stichwahlprinzip hat das Land demnach vor der extremen Rechten bewahrt.
In vielen Wahlkreisen hatte sich im Vorfeld eine «triangulaire» ergeben, eine Dreierkonstellation also; weil die Chancen, den RN zu bezwingen, in einem Duell grösser waren, waren rund 200 Kandidat:innen zurückgetreten. Ein Manöver, das viele aus demokratietheoretischer Sicht problematisch finden und das Le Pen und Bardella ermöglichte, das Narrativ von der «gestohlenen Wahl» à la Trump zu verbreiten.
Zu den Bildern
Wie zeigt sich Frankreich am Tag dieser Schicksalswahl? Kann der Durchmarsch der extremen Rechten gerade noch abgewendet werden? Haben die Anhänger:innen der Neuen Volksfront Grund zum Jubeln? Die freie Fotografin Caroline Minjolle – selbst in Frankreich wahlberechtigt – hat diesen besonderen Tag in der Geschichte der Fünften Republik für die WOZ begleitet. Ihrer Fotoreportage aus Lyon sind die Bilder auf dieser Doppelseite entnommen.
Und schliesslich könnte man ob des triumphalen Erfolgs des Linksbündnisses, das sich für diese Wahlen spontan zusammengeschlossen hat, fast vergessen, wie heterogen es ist. Dass es keine absolute Mehrheit besitzt und in Wirklichkeit gar nicht allein regieren, sein ambitioniertes Programm folglich auch nicht eins zu eins wird umsetzen können. Am Sonntag, diesem historischen 7. Juli, sind all diese Herausforderungen noch einen Augenblick lang in den Hintergrund gerückt. Zumindest bis zum nächsten Morgen.
«Ich habe ihnen eine entladene Granate zwischen die Beine geworfen. Nun werden wir mal sehen, was sie draus machen», soll Macron über seine einsame Entscheidung gesagt haben, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen einzuberufen. Ziemlich sicher hat der Präsident nicht mit dieser Art der Explosion – einem Sieg der Linken – gerechnet. Stets hatte Macron das Schreckensszenario «Marine Le Pen, Présidente» gezeichnet, um eine «republikanische Front» als Brandmauer gegen die extreme Rechte zu mobilisieren. Viele linke Wähler:innen haben ihm in der Vergangenheit wider Willen zwei Mal in den Élysée verholfen. «Gedankt» hat er es ihnen mit einem politischen Rechtsruck, etwa beim Einwanderungsgesetz.
Zurück zur Linken. Wobei: Welcher Linken denn nun? Reden wir von Jean-Luc Mélenchons Unbeugsamem Frankreich, La France insoumise (LFI)? Oder über Raphaël Glucksmann von der Partei Place publique, den Überraschungssieger der Europawahlen von Anfang Juni? Wie stehts um den altehrwürdigen, aber zwischenzeitlich bedeutungslos gewordenen Parti socialiste mit seiner sozialdemokratischen Politik? Wo sehen sich die Grünen, deren Galionsfigur Marine Tondelier mit ihrem Markenzeichen, dem grünen Jackett, in diesem Wahlkampf zur Sympathie- und Hoffnungsträgerin geworden ist? Und dann sind da ja auch noch die Kommunist:innen, in den letzten Jahren weichgespült und programmatisch ohne scharfes Profil. Von Anfang an war klar, dass sich diese bunt zusammengewürfelte Truppe nach der Wahl die Frage stellen muss, ob sie für eine Zusammenarbeit mit dem Macron-Lager bereit ist – und unter welchen Bedingungen.
Der Elefant im Raum
Raphaël Glucksmann hat anklingen lassen, er wolle eine «Koalition der Vernunft» schmieden – was aus seiner Sicht nichts anderes als «lieber in der Mitte statt ganz links aussen» heisst. Aufseiten der Sozialist:innen freut man sich schon über ein paar neue Abgeordnete mehr, darunter auch Expräsident François Hollande und Olivier Faure, Generalsekretär der Partei. Aber auch sie haben in der Realität stets eher mittig gedacht statt radikal links. Und die grösste politische Kraft innerhalb des Linksbündnisses – die Mélenchon-Partei LFI – ist in den letzten Jahren die treibende linke Kraft gewesen. Sie kann zudem damit argumentieren, dass der Verfassungsrat sie als links und nicht linksextrem einstuft (im Gegensatz zur klaren Zuschreibung «rechtsextrem» im Fall des RN).
Zwischen den linken Kräften gibt es viele strittige Punkte: die Rolle Europas, die Unterstützung der Ukraine, das Verhältnis zu Russland, die Haltung im Nahostkonflikt. Und natürlich die Frage nach den künftigen Köpfen des NFP. Aber sind die Positionen wirklich unvereinbar – oder hält man sich an die verabredete Zusammenarbeit und das eilig ausgearbeitete Programm? Dieses sieht unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns, eine höhere Besteuerung von Vermögen und die Rücknahme der Rentenreform vor.
Noch ist offen, wer innerhalb des Linksblocks die Führungsrolle übernehmen wird – und welche politische Figur Bruchstellen kitten und Gegensätze überwinden kann. Was als Macrons Pokerspiel angefangen hat, wird nun zu einer zehrenden Schachpartie: Darin werden die Spielfiguren hin- und hergeschoben, ohne zu wissen, für und gegen wen man eigentlich spielt. LFI wirkt auf viele abschreckend, ihre Leitfigur Mélenchon wird in den konservativen Medien als eine Art stalinistischer Volkstribun dargestellt, der Frankreich in den Abgrund treiben würde.
Tatsächlich ist die Figur Mélenchon der Elefant im Raum: Einerseits ist die Frage nach seiner künftigen Rolle entscheidend, andererseits wird sie von allen Seiten heruntergespielt. Mathilde Panot etwa, die ehemalige LFI-Fraktionsvorsitzende, erinnerte daran, Mélenchon habe «der Linken wieder beigebracht zu gewinnen», Millionen Menschen die Hoffnung zurückgegeben. Mit seinen 22 Prozent bei der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 habe er die Neue Volksfront zudem erst ermöglicht, so Panot. Für andere Linke wiederum geht es nicht mit ihm. Also dann vielleicht doch lieber ohne statt gar nicht? Es ist kompliziert.
Enttäuschung für das «linke Volk»
Bislang gelingt es der Neuen Volksfront in allen Fernsehshows, die Frage nach dem Wer abzuwehren. Es gehe darum, «wie regiert wird», sagen alle Vertreter:innen. Ein Kollektiv möchte man sein – und damit ganz anders, als in Frankreich die fast monarchische Präsident:innenrolle angelegt ist. Einig ist man sich, dass der oder die zukünftige Regierungschef:in aus den eigenen Reihen kommen muss. Clémence Guetté, die 33-jährige Vizefraktionsvorsitzende von LFI, können sich viele Beobachter:innen als mögliche Premierministerin vorstellen. Überhaupt sind es Frauen, die in diesen turbulenten Tagen bei der Volksfront herausstechen, vielleicht auch, weil man ihnen eher eine «Befriedung» des politischen Klimas zutraut.
In Nuancen wird klar, wie sehr manche Aussagen in Richtung Konsens deuten, während gerade LFI auf das vorgeschlagene Programm pocht. Der «peuple de gauche», das linke Volk, wurde von seinen Vertreter:innen, sobald sie die Macht übernommen hatten – von François Mitterrand über Lionel Jospin bis zu François Hollande –, bislang immer enttäuscht. Am Ende wurde das ursprüngliche Programm stets durch Austeritäts- und Flexibilisierungspolitiken konterkariert. Und so mag Frankreich heute augenscheinlich nach links gerückt sein. Ob von nun an links regiert wird, ist noch lange nicht ausgemacht.