Regierungskrise in Frankreich: Chaostage in Paris
Um eine neue Regierung zu bilden, versucht Präsident Emmanuel Macron, Allianzen zu schmieden. Das stellt das Linksbündnis vor eine Zerreissprobe.
Wer im Sommer dachte, Frankreichs politische Lage sei instabil, weiss jetzt, am Jahresende: Schlimmer geht immer. Emmanuel Macrons Versuch, durch Neuwahlen klare Mehrheitsverhältnisse zu schaffen, ist krachend gescheitert. Bei den Parlamentswahlen Ende Juni / Anfang Juli hatte die vereinte Linke in Form des Nouveau Front populaire (NFP) die meisten Parlamentssitze geholt und den Anspruch erhoben, den oder die zukünftige:n Premierminister:in zu stellen. Doch Macron setzte sich über diese Forderung hinweg und schmiedete stattdessen eine Mitte-Rechts-Koalition unter der Führung des konservativen Republikaners Michel Barnier.
Um regieren zu können, war Premierminister Barnier in der Nationalversammlung auf zusätzliche Stimmen aus dem rechtsextremen Le-Pen-Lager oder vom Linksbündnis angewiesen. Ein Drahtseilakt, der vergangene Woche in einem Misstrauensvotum und dem Sturz Barniers endete. Die französische Verfassung sieht nach einer Wahl eine Sperrfrist von einem Jahr vor, bis erneut gewählt werden darf. Frankreich ist derzeit, so scheint es, unregierbar. In zahlreichen Fernsehdebatten konnte man in den letzten Tagen Bedauern darüber hören, dass es die politischen Gepflogenheiten nicht vorsehen, Koalitionen aus unterschiedlichen Parteien zu schliessen, wenn sie inhaltlich nicht zueinander passen. Als sei Regierbarkeit für sich genommen bereits ein Wert. Was aber, wenn zugunsten der Regierbarkeit letztlich immer der Status quo erhalten bleibt? Ein Status quo, der sich zudem in den vergangenen Jahren stets weiter nach rechts verschob?
Im linken Lager rauchen derweil die Köpfe, denn es ist der Moment der Entscheidung. Zwar holte die Neue Volksfront im Sommer die meisten Sitze, aber am Ende sind 192 von 577 Parlamentssitzen doch zu wenig – eine relative Stärke, aus der sich nicht viel machen lässt. Nach dem Scheitern der Regierung Barnier empfing Präsident Macron in den letzten Tagen die Vertreter:innen aller Parteien zu Sondierungsgesprächen im Élysée-Palast. Aller Parteien? Nein. Weil er das rechtsextreme Rassemblement National (RN) und die linkspopulistische Partei La France insoumise (LFI) nicht zum «arc républicain», zum republikanischen Spektrum, rechnet, liess er sie aussen vor. Damit ist das Zerwürfnis innerhalb der Linken programmiert.
Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel
Links hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Die Sozialist:innen (PS), lange tonangebend, aber von François Mitterrand bis François Hollande immer liberaler ausgerichtet, sind bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Stattdessen hat LFI seit der Gründung 2016 nach und nach eine Vormachtstellung innerhalb der Linken übernommen, und ihre zentrale Figur, Jean-Luc Mélenchon, rückte 2017 in die Nähe der Stichwahl ums Präsidentschaftsamt. Seither versuchte dieser immer wieder, die Linke unter sich zu vereinen und Allianzen mit Grünen, Kommunist:innen und Sozialist:innen zu schmieden. Bis zum Sommer 2024 allerdings ohne Erfolg: zu viel Streit über Personalien, zu viele inhaltliche Differenzen.
Seit dem Zusammenschluss des breiten linken Bündnisses vor den Neuwahlen appelliert Mélenchon an seine Mitstreiter:innen, unbedingt an den Wahlversprechen festzuhalten. Zuallererst am Plan, die ultraliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik der Macron-Regierung der letzten Jahre rückgängig zu machen und die Rentenreform zurückzunehmen. Nun aber wackelt der Zusammenhalt, es ist bereits von einem Bruch des Bündnisses die Rede. Besonders die Sozialist:innen zeigen sich Macron gegenüber für eine Zusammenarbeit offen, die in den nächsten Tagen konkreter werden könnte.
Das mag eine Strategie sein, um sich aus dem Griff der mächtigen LFI zu lösen, um sichtbarer zu werden und wieder an Stärke zu gewinnen. PS-Chef Olivier Faure sagte, man könne hinsichtlich des Ringens um eine:n neue:n Premierminister:in nicht ewig Nein sagen. Und auch sein kommunistischer Kollege Fabien Roussel betonte, das Wichtigste sei, «dass wir vorankommen». Deswegen dürfe man keine Vorbedingungen stellen, was Namen, Vorschläge und rote Linien angehe. La France insoumise droht seine Bündnispartner also an Macron zu verlieren.
Ein möglicher Bruch des Linksbündnisses birgt Gefahren: Sollten Sozialist:innen, Grüne oder Kommunist:innen eine Art Nichtangriffspakt mit den Macronist:innen schmieden oder gar deren Gesetzesvorlagen unterstützen, würden sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Denn dass der Präsident eine Kehrtwende nach links macht, ist unwahrscheinlich. Eine der wichtigen Figuren von LFI, die Europaabgeordnete Manon Aubry, konfrontierte kürzlich Jordan Bardella, Marine Le Pens politischen Ziehsohn und Europaabgeordneten des rechtsextremen Rassemblement National, bei einer TV-Debatte mit der Tatsache, dass er im EU-Parlament für Inhalte stimme, die im totalen Gegensatz zu seinen Ankündigungen im Wahlkampf stünden. Wenn nun Parteien aus dem linken Lager dasselbe täten, könnte dies einmal mehr das Vertrauen vieler Wähler:innen in die Politik insgesamt beschädigen.
Regieren oder gewinnen?
LFI wird von bürgerlichen Medien besonders kritisiert. So wurden der Partei etwa eine Nähe zu Russland oder auch Sympathien für die Hamas unterstellt. Trotzdem finden ihre innenpolitischen Forderungen aktuell viel Gehör. Denn die soziale Schieflage im Land bekommen immer mehr Menschen zu spüren, angefangen bei der Krise der Spitäler über den Lehrer:innenmangel bis zu steigender Armut durch die unerbittliche Inflation. An diesen Realitäten kommt eine künftige Regierung nicht vorbei, will sie nicht noch mehr Wähler:innen an Marine Le Pen verlieren und der RN-Chefin damit womöglich 2027 in den Élysée-Palast verhelfen. Die Barnier-Regierung pochte auf Haushaltsdisziplin und schlug mit Blick auf die hohe Staatsverschuldung weitere Einschnitte vor. Das Linksbündnis hatte Steuern auf hohe Vermögen gefordert, was die Kernklientel der Macronist:innen treffen würde.
Manchmal gewinnt man mehr, wenn man nicht regiert, könnte das Motto des Linksbündnisses lauten: Manchmal tut man gut daran, abzuwarten und an seinen Überzeugungen und seinem Programm festzuhalten, wenn man langfristig überzeugen und Wahlen gewinnen will. In den letzten Monaten sind neue, vielversprechende Gesichter im Linksbündnis aufgetaucht, viele davon weiblich: die Grüne Marine Tondelier sowie Mathilde Panot, die Fraktionsvorsitzende von LFI, und ihre Parteikollegin und Vizepräsidentin der Nationalversammlung, Clémence Guetté. Alle drei lassen im linken Frankreich Zukunftshoffnungen wachsen, wirken überzeugend und professionell.
2018 rollte eine Welle der Empörung über das Land, als die Gelbwestenbewegung mehrere Monate lang ihren Unmut auf die Strassen des Landes trug. Am Ende blieb der grosse Umbruch aus. Aber vielleicht findet dieser gar nicht auf der Strasse statt, sondern an der Urne. Und vielleicht heisst es 2027 «Wir gegen sie». Rechtsaussen gegen Linksaussen, so hatte es Jean-Luc Mélenchon vorausgesagt. Ein denkbares Szenario, das erst Macron mit seiner Politik möglich gemacht hat.