Gefängnisfilm: Was uns befreit
Lola Arias verwandelt Workshops in Kunst. Ihr neuer Film, «Reas», ging aus Theater- und Filmkursen in argentinischen Gefängnissen hervor. Ein beglückendes Experiment.
Der Frauengefängnisfilm hat eine lange Geschichte und eine simple Prämisse: Mindestens ein unschuldiges Mädchen landet im Knast, wo es vielseitig gedemütigt wird, vorzugsweise nackt, bis es sich irgendwann wehrt, meistens vergeblich. Das wohl trashigste Exemplar dieses Subgenres stammt aus der Schweiz: «Frauen für Zellenblock 9» (1977), eine Produktion von Erwin C. Dietrich. «Eine Sadistin und ihr Berater, ein Arzt, foltern in einem Lager drei junge Frauen – was der Film mit unverhohlenem Genuss ausspielt», kommentierte der «Filmdienst» und riet ab.
Dabei hatte die US-Regisseurin Stephanie Rothman mit «Terminal Island» (1973) schon vorgemacht, wie sich das Genre zumindest ansatzweise sozialkritisch wenden liesse, indem sie den Häftlingen nach einem Gemetzel den Aufbau einer utopischen Hippiekommune gönnte. Neuere Ausläufer wie die erfolgreiche Netflixserie «Orange Is the New Black» (2013–2019) adeln das Genre mit Realismus und Diversität, setzen aber nach wie vor auf seine verkaufsträchtigsten Zutaten: Rivalität, Sex, Intrigen.
Aufstand? Akrobatik!
In «Reas», dem zweiten Filmprojekt der spartenübergreifend arbeitenden argentinischen Künstlerin Lola Arias, ist das von Anfang an anders. «Vier Jahre und sechs Monate», «Gefängnis Ezeiza», «Drogenschmuggel» – die 26-jährige Yoseli beantwortet Fragen aus dem Off, die sich anhören wie ein Polizeiverhör, aber die Vergangenheit betreffen. «Wie lange haben Sie gesessen?», «Wo waren Sie inhaftiert?», «Grund?». Und plötzlich: «Was wären Sie gerne?» Als würden Polizeifotos gemacht, wendet sich Yoseli auf Anweisung nach rechts, nach links, schliesslich nach vorn und lacht: «Millionärin.» Yoseli spielt Yoseli. Wie alle Darsteller:innen in «Reas» war sie tatsächlich im Gefängnis und stellt im Film ihre eigene Hafterfahrung nach. Auf ihrem Schulterblatt prangt ein Eiffelturmtattoo. Hätte man sie auf dem Flughafen nicht erwischt, wäre sie zum ersten Mal nach Europa geflogen.
Der Film ist gespickt mit Genrezitaten. Auf den obligaten «Strip Search», die Leibesvisitation beim Gefängniseintritt, folgt die mürrische Begrüssung in der Zelle. Die Frauenclique checkt die Neue ab, die Aufseherinnen verderben die Stimmung, und beim Fussball liegen die Nerven blank. Doch dann kommt alles anders: Die Spannung löst sich in Tanz oder Gesang auf (Musik: Ulises Conti), die Clique entpuppt sich als warmherzige Truppe, der Aufstand endet in hinreissender Spontanakrobatik im Hof. Und die Gefängnisband mit dem trans Mann Nacho probt immer wieder aufs Neue den Refrain ihres Hits: «Niemand weiss, wie es ist, rückwärts zu leben.»
Lola Arias kommt vom Theater. Sie war 23, als sie erstmals Regie führte. Danach begann sie, ihre Stücke selbst zu schreiben. Inzwischen sind die meisten ihrer Arbeiten dokumentarisch und entstehen international, auch in der Schweiz, wo sie an der Hochschule der Künste Bern als Dozentin für Expanded Theatre lehrt. Für ihr aussergewöhnliches Werk ist sie dieses Jahr mit dem renommierten Ibsen-Preis ausgezeichnet worden. «Der einzige Weg, um in ein Thema einzutauchen, ist für mich, Menschen zu treffen», sagt sie beim Interview in Zürich. «Ich muss längere Zeit mit den Leuten arbeiten, ein Vertrauensverhältnis aufbauen.» Das gilt auch für ihre Arbeit mit Film.
«Reas» ist ihr zweites Filmprojekt. Es begann damit, dass sie ihren ersten Film, «Theatre of War» (2018), im Frauengefängnis von Ezeiza in Buenos Aires zeigte. Darin stellen Veteranen beider Kriegsparteien gemeinsam ihre traumatischen Erinnerungen an den Falklandkrieg (1982) nach. Nach der Vorstellung kamen einige Frauen aus dem Publikum auf die Regisseurin zu und meinten, so etwas wollten sie auch einmal machen. «Ich hatte davor schon für andere Projekte im Gefängnis gearbeitet», erinnert sich Arias. «Aber erst da wurde mir klar, dass viele ein Bedürfnis haben, sich durch Kunst auszudrücken.»
Der erste Gefängnisworkshop fand 2019 statt. Nach Covid ging es «draussen» mit ehemaligen Insass:innen weiter, darunter einige, die schon «drinnen» dabei gewesen waren. «Tatsächlich sind die Leute, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, immer wieder zu den Workshops gekommen.» Nach dem letzten habe sie eigentlich eine Auswahl treffen wollen, wer im Film mitmachen würde. «Aber am Ende waren es vierzehn Leute, die Interesse hatten. Sie waren sehr engagiert, also habe ich sie alle genommen.»
Covid vereitelte den ursprünglichen Plan, direkt im Ezeiza-Gefängnis zu drehen. Die Crew wich für die Dreharbeiten auf ein leer stehendes ehemaliges Männergefängnis aus, in dem während der Militärdiktatur auch politische Gefangene inhaftiert gewesen waren. Eine ideale Alternative, wie sich später herausstellen sollte: «Der Raum ist real, macht aber von Anfang an klar, dass es sich bei allem, was man sieht, um eine Rekonstruktion handelt.» In ländlichen Gegenden gebe es tatsächlich Anstalten, die stark an dieses «Loch» erinnerten, betont Arias. Die städtischen Gefängnisse, in denen sie gearbeitet habe, böten etwas mehr Komfort, aber letztlich seien die Haftbedingungen überall «knallhart».
Misere wegen Milei
Ähnlich verhält es sich mit den Filmproduktionsbedingungen. Die ultrarechte Regierung unter Präsident Javier Milei hat die Kulturausgaben radikal gekürzt. Zudem leidet Argentinien unter einer der höchsten Inflationsraten der Welt. Das nationale Filminstitut sei dadurch praktisch «zusammengebrochen», sagt Arias. Für «Reas» war sie auf internationale Koproduzent:innen wie die Mira Film Basel angewiesen.
«Rea» (lateinisch für «die Angeklagte») bezeichnet im argentinischen Slang eine durchgeknallte Rebellin. Der Titel trifft nicht nur auf das grandiose queere Ensemble zu. Er passt auch perfekt zum Film selbst, der sich eine feuchte Gefängnismatratze darum schert, ob er nun fiktional oder dokumentarisch, Musical oder Reenactment ist. «Reas» feiert seine Darsteller:innen – Yoseli, Nacho, Estefy, Tante Noé, Paulita, Carla –, ihren Lebensmut, ihre Freundschaft, ihre phänomenale Performance und damit die Kunst als einen Zauber, der uns befreien und mit anderen zusammenbringen kann, unabhängig davon, wie anders sie sind.
«Wir wollen sie umarmen!»
Das Genre des Musicals werde normalerweise zur Darstellung von Randgruppen verwendet, sagt Arias. «Musicals spielen in gefährlichen Stadtvierteln oder handeln von Gangs, es treten dann aber schöne Schauspielstars und professionelle Tänzer:innen auf. Ich wollte, dass sich die Leute, um die es geht, selbst repräsentieren können.» Wer ihr deswegen vorwerfe, Kriminalität zu verharmlosen, übersehe, worum es ihr gehe: den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. «Die Gefängnisse sind voll mit Frauen, die aufgrund ihrer prekären Lebensumstände straffällig wurden. Ich will, dass wir aufhören, diese Menschen zu stigmatisieren. Ich möchte nicht, dass man aus dem Film geht und denkt, diesen Leuten aus dem Weg gehen zu müssen.»
«Wo sind sie? Wir wollen sie sehen und umarmen!», sollen Zuschauer:innen nach der Premiere von «Reas» auf der Berlinale gerufen haben. Ziel erreicht – Berührungsängste weg, könnte sich Lola Arias also sagen. Doch sie zaubert weiter. Noch während des Drehs baten sie die Darsteller:innen um eine Fortsetzung der Zusammenarbeit. So entstand «Los días afuera», ein Theatermusical über die Zeit nach der Haft. Darüber, wie es ist, rauszukommen, einen Job zu finden, in die Familie zurückzukehren. Das Stück wird durch 24 Städte touren, darunter Zürich, Basel und auch Paris. Die Chancen stehen also gut, dass auch Yoseli ihr Ziel erreicht und endlich den Eiffelturm sieht.
«Reas». Regie: Lola Arias. Argentinien/ Deutschland/Schweiz 2024. Jetzt im Kino.
«Los días afuera» gastiert am 15./16./17. August 2024 am Zürcher Theaterspektakel und am 20./21. August 2024 am Theaterfestival Basel.