Bildungsproteste: Düstere Aussichten für Argentinien
Argentiniens Präsident Javier Milei hat die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Kultur radikal gekürzt. Junge Menschen sorgen sich um die Zukunft des Landes.
Delfina Pazos geht durch die dunklen Gänge der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universidad de Buenos Aires. Die Universität muss sparen, deshalb wurde das Licht in den Fluren und in den Hörsälen, in denen gerade keine Vorlesung stattfindet, ausgeschaltet. Auch geheizt wird nicht mehr. Die staatliche Universität von Buenos Aires – kurz UBA genannt – gilt als eine der besten Lateinamerikas. Sechzehn argentinische Präsidenten haben hier studiert, auch der Wirtschaftsminister der amtierenden Regierung. Im April hat die UBA einen Haushaltsnotstand erklärt: Das Budget reiche nicht mehr lange – wenn nicht mehr Geld vom Staat komme, müsse die Universität schliessen, warnt der Rektor. «Der Präsident greift das öffentliche Bildungssystem direkt an und setzt damit unsere Zukunft aufs Spiel», sagt die 22-jährige Wirtschaftsstudentin Pazos.
Argentiniens rechtslibertärer Präsident Javier Milei hat das Bildungsbudget in seinem Haushaltsplan nicht an die Inflation angepasst – die aktuell bei 270 Prozent liegt. Das kommt einer Kürzung des Hochschulbudgets von 70 Prozent gleich, wie aus einem Bericht der Asociación Civil por la Igualdad y la Justicia hervorgeht, einer NGO, die sich für Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzt. Gemäss dem Bericht handelt es sich um das niedrigste Bildungsbudget seit 1997. Ausserdem wurden die Gehälter der Dozent:innen eingefroren, viele sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Der Präsident selbst bezeichnet die öffentliche Bildung als «Gehirnwäsche» und wirft den Dozent:innen an den staatlichen Universitäten «Indoktrinierung» vor. Die Regierung hat ausserdem staatliche Subventionen für Strom und Gas verringert, die Preise im öffentlichen Nahverkehr erhöht und die nationale Währung Peso um die Hälfte abgewertet. Hinzu kommt die galoppierende Inflation. Seit Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 ist die Kaufkraft der Argentinier:innen um 24 Prozent geschrumpft.
«Ich habe Kommilitoninnen, die nicht mehr zu den Vorlesungen kommen, weil sie den Bus nicht mehr bezahlen können», sagt Pazos. Andere hätten das Studium ganz abgebrochen, weil die Mieten in Buenos Aires so stark gestiegen seien. Wenn das so weitergehe, werde es weniger Studierende geben, weniger Absolvent:innen und weniger Fachkräfte. «Hier geht es um die Zukunft von Argentinien.» Ihr Vater arbeitet an einer Tankstelle, ihre Mutter ist Kindergärtnerin. Das öffentliche Bildungssystem habe es ihr ermöglicht zu studieren. Ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von den immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Deshalb wollte sie Wirtschaft studieren. «Wir jungen Menschen müssen Lösungen finden für die Probleme von Argentinien», sagt die Studentin.
Der Tiktok-Präsident
Die Menschen in Argentinien sind erschöpft, weil es den vergangenen Regierungen nicht gelungen ist, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen und die Inflation in den Griff zu bekommen. Die junge Generation ist mit hohen Inflationsraten aufgewachsen und blickt pessimistisch in die Zukunft. Viele identifizieren sich nicht mit den traditionellen Parteien, die Milei als «politische Kaste» bezeichnet. Auf Tiktok war sein Wahlkampf besonders erfolgreich, weil er einfache Lösungen für komplexe Probleme anbot. Er war der Kandidat, der Wandel versprach. Unter den 24-Jährigen stimmten bei den Präsidentschaftswahlen im November fast siebzig Prozent für Milei, der angekündigt hatte, den Staat wie mit einer Kettensäge zurechtzustutzen. Sie sind es, die jetzt unter seiner Sparpolitik leiden.
Um sich gegen die Budgetkürzungen der Regierung zu wehren, riefen die öffentlichen Universitäten zu einem landesweiten Protest am 23. April auf. Auch Pazos demonstrierte mit ihren Kommiliton:innen. Es sei einer der grössten Proteste gewesen, den sie je gesehen habe. Schätzungen zufolge kamen in Buenos Aires über 400 000 Menschen zusammen, im ganzen Land etwa eine Million. Nicht nur Studierende und Dozent:innen nahmen teil, auch Kinder und Rentner:innen. «Das Heimatland ist nicht zu verkaufen», sangen sie, während sie tanzend und trommelnd in Richtung Plaza de Mayo zum Präsidentenpalast zogen. Es waren nicht nur die Fahnen der Gewerkschaften und Oppositionsparteien zu sehen, sondern vor allem bunte Plakate von Menschen ohne Parteizugehörigkeit. «Unsere grösste Errungenschaft ist, dass sich die Universitäten mit Arbeiterkindern gefüllt haben», war auf einem Schild zu lesen, «Ohne öffentliche Universitäten gibt es keine Zukunft» und «Bildung ist ein Recht und kein Privileg» auf anderen.
Es war der erste grosse Protest seit Mileis Antritt, an dem auch Menschen teilnahmen, die für ihn gestimmt hatten. Einer Umfrage zufolge unterstützen immer noch 49 Prozent der Bevölkerung die Regierung, die meisten von ihnen sind junge Menschen. Aber die Bildungspolitik bewerten auch diese überwiegend negativ. Auch Delfina Pazos hat Kommiliton:innen, die für Milei gestimmt und am Protest teilgenommen haben. Vor ein paar Monaten hätten sie noch gesagt, sie glaubten nicht, dass Milei wirklich gegen die öffentlichen Universitäten vorgehen würde. Jetzt sähen sie, dass er seine Ankündigungen wahr mache. «Unter den Studierenden erwacht ein Bewusstsein für die Situation», sagt die Studentin. Pazos räumt ein, dass es auch Probleme an den öffentlichen Universitäten gebe. Zum Beispiel sei die Abbruchquote hoch. «Aber die Probleme lösen sich sicher nicht durch Budgetkürzungen», sagt sie.
Die staatlichen Universitäten gehören gewissermassen zum Nationalstolz der Argentinier:innen. Beim Protest in Buenos Aires sangen die Demonstrant:innen die Nationalhymne. «Die kostenlosen, öffentlichen Universitäten schaffen Chancengleichheit und ermöglichen soziale Mobilität. Darauf sind wir in Argentinien stolz», sagt Pazos.
Chilenische Zukunft?
Argentinien ist eines von wenigen Ländern in Lateinamerika mit öffentlichen und kostenlosen Universitäten. Deshalb kommen junge Menschen aus dem ganzen Kontinent zum Studieren hierher. Sie machen etwa vier Prozent aller Studierenden in Argentinien aus. Auch das will Milei ändern: Ausländische Studierende sollen künftig Studiengebühren zahlen, wenn er das entsprechende Gesetz im Kongress durchsetzen kann.
Die 32-jährige Chilenin Mara Ibaceta ist vor etwa einem Jahr nach Buenos Aires gekommen, um an der Universidad Nacional de las Artes einen Master in Theater und Performancekunst zu machen. Beim Bildungsprotest führte sie mit einer chilenischen Kollegin eine Performance auf: Hand in Hand, in chilenische Schuluniformen gekleidet, das Gesicht mit einer Sturmhaube bedeckt, in der anderen Hand einen Stein, liefen sie über die Hauptverkehrsader Avenida 9 de Julio. Sie wollten an die Proteste der Schüler:innen erinnern, die in Chile 2006 für ein öffentliches Bildungssystem demonstriert hatten. Auch Ibaceta hatte damals protestiert. «Ich fühle mich, als käme ich aus der Zukunft: aus einem Land, in dem alles privatisiert ist», sagt die Schauspielerin. «Chile ist die Wiege des Neoliberalismus, und für Milei ist es ein Vorbild.»
Ibaceta sagt, sie sei nach Argentinien gekommen, weil es hier das Recht auf Bildung gebe. In Chile habe sie das nie erlebt, dort wurde das Bildungssystem während der Pinochet-Diktatur weitgehend privatisiert. Die Studiengebühren gehören zu den höchsten in Lateinamerika; auch die staatlichen Universitäten erheben Gebühren. Dies verschärft die soziale Ungleichheit im Land, weshalb es immer wieder zu landesweiten Bildungsprotesten kommt.
Kampf dem Kulturbereich
Nicht nur das Bildungssystem, auch die Kunst- und Kulturszene lockte die Chilenin nach Buenos Aires. «In Argentinien hat die Kunst einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert, sie ist Teil der nationalen Identität», sagt sie. In Chile habe die Diktatur viele Kunst- und Kulturräume zerstört; nur wenige Menschen gingen regelmässig ins Theater. In Buenos Aires sei das anders. Ibaceta glaubt, dass diese Unterschiede auch mit den verschiedenen historischen Erfahrungen während und nach den jeweiligen Militärdiktaturen zusammenhängen. Die chilenische Diktatur dauerte siebzehn Jahre, die argentinische sieben. In Argentinien gab es eine umfassende Aufarbeitung, der Diktator Jorge Videla wurde verurteilt und starb im Gefängnis. Augusto Pinochet starb, ohne jemals verurteilt worden zu sein.
Zudem erhalte der Kultursektor in Argentinien mehr staatliche Unterstützung als in Chile, wodurch die Eintrittspreise für Theater und Kino erschwinglicher seien. Aber auch dem Kulturbereich hat Milei den Kampf angesagt. Er hat auch hier die öffentlichen Ausgaben gekürzt und will das staatliche Filminstitut INCAA schliessen.
Eigentlich wollte Mara Ibaceta nach ihrem Master in Buenos Aires bleiben. Hier fühlte sie sich frei, mit mehr Lebensqualität und beruflichen Chancen. Doch seit Milei an der Regierung ist, hat sich das geändert. Jetzt will sie nach Chile zurückkehren. «In Chile kämpfen die Künstler ums Überleben. Ich fürchte, das wird hier bald auch so sein», sagt sie.
Delfina Pazos will sich mit ihren Kommiliton:innen für Veränderungen einsetzen. «Wir werden nicht zulassen, dass unsere Grundrechte eingeschränkt werden», sagt sie. «Der grosse Bildungsprotest könnte ein Wendepunkt gewesen sein.»