Israel / Palästina und die Proteste: Für die Gleichheit aller Menschen
Die pauschale Behauptung einiger Politikerinnen und Journalisten, die Proteste gegen den Gazakrieg, die auch die Schweizer Unis erfasst haben, seien antisemitische Hetze, ist schlicht Blödsinn. Und dennoch sollte man die Proteste nicht ebenso pauschal von jeglicher Kritik freisprechen. Entgegen einem sich ausbreitenden Glauben ist die Welt selten schwarzweiss.
Tatsächlich riskiert der von Palästinaflaggen begleitete Protest, in ein nationales Denken zu verfallen, wenn er die Opfer der Hamas vergisst oder zum allgemeinen Boykott Israels aufruft – wie es weltweit an einigen Universitäten passiert ist. Hier werden Menschen nur aufgrund ihrer nationalen Herkunft in ein feindliches Lager gedrängt.
Ein solch nationales Denken droht in Antisemitismus abzugleiten. Auch wenn sich argumentieren lässt, dass der Boykott eines Staates, der Krieg führt, etwas anderes ist als der Boykott von Jüd:innen im Nationalsozialismus: Im Mindesten kann der Boykott mit sehr gutem Grund als antisemitisch verstanden werden. Und warum sollte man nicht davon ausgehen, dass es auch Protestierende gibt, die das so meinen?
Wer aufrichtig hinschaut, muss gleichzeitig festhalten, dass die Mehrheit der Protestierenden in erster Linie von einer berechtigten moralischen Empörung über einen grauenvollen Krieg getrieben sind. Die Pauschalisierung des Protests als antisemitische Hetze ist oft der Versuch, diese Kritik zum Schweigen zu bringen. Die Kritik an einem Krieg, in dem Menschen eingekesselt, seit Monaten bombardiert und ausgehungert werden; in dem ein Grossteil der Häuser, Schulen und Spitäler zerstört und bereits über 30 000 Menschen getötet wurden, darunter Tausende von Kindern; in dem Israels Premier Benjamin Netanjahu derzeit trotz internationaler Warnungen vor weiteren katastrophalen humanitären Folgen seine Panzer immer tiefer nach Rafah einrollen lässt – und dies, obwohl inzwischen allen klar ist, dass er die Hamas mit dem Krieg nicht besiegen kann.
Was die Kritik vieler am Protest besonders grotesk macht: dass sie ihn im Namen der Gleichheit aller Menschen pauschal als antisemitisch verurteilen, um sich im Gefühl moralischer Überlegenheit hinter eine teilweise offen rassistische Regierung zu stellen, die diese Idee mit Füssen tritt. Es gibt einige, die sich aus der ehrlichen Empörung über die schrecklichen Massaker vom 7. Oktober und die Geiselnahme durch die Hamas hinter den Krieg stellen – oder seit Monaten schweigen. Das ist nachvollziehbar. Doch wer es mit der Gleichheit aller Menschen ernst meint, wird Israels Menschenrechtsverletzungen genauso verurteilen wie jene der Hamas.
Letzteres gilt auch für jene, die gegen den Krieg protestieren. Auch weil sie mit einem national angehauchten Protest wiederum den Nationalismus auf der Gegenseite befeuern: Der Aufruf zum Israelboykott, der an Universitäten ertönt, übernimmt unbewusst Netanjahus Behauptung, dass es hier um einen Kampf zwischen Nationen gehe, und verweist auch Israelis, die ebenfalls in diesen Tagen gegen Besetzung und Krieg auf die Strasse gehen, in Netanjahus Lager, statt ihnen die Hand zu reichen. In letzter Konsequenz führt das in eine Welt, in der sich zwei nationalistische Lager wie Zwillinge gegenüberstehen, die die Idee der Gleichheit unter sich begraben.
Warum sich nicht strikt an Gleichheit, Menschenrechte und das internationale Recht halten? Es ist möglich, sich gegen Antisemitismus zu stellen, für Israels Existenzrecht einzustehen und die Gräueltaten der rechtsreaktionären Hamas zu verurteilen; und gleichzeitig die jahrzehntelange Besetzung, Belagerung und Besiedlung palästinensischer Gebiete zu bekämpfen, das Recht auf einen palästinensischen Staat einzufordern und gegen diesen Krieg zu protestieren.
Der eigentliche Kampf, der tobt, ist nicht ein Kampf zwischen Israelis und Palästinenser:innen. Es ist der Kampf für die Gleichheit aller Menschen – gegen alle jene, die dies ablehnen.