Belluard Bollwerk: Knöcheltief im Wasser waten

Nr. 27 –

Das internationale Kunstfestival Belluard Bollwerk in Fribourg bringt politische Verstrickungen im Lokalen wie Globalen auf die Bühne. Unter viel zu prekären Bedingungen, wie die scheidende Direktorin klarmacht.

Bühnenfoto von Eva-Maria Bertschys Inszenierung «Fremde Seelen / Âmes étrangères»
Da hilft auch ein Alphorn nicht: Eva-Maria Bertschys «Fremde Seelen / Âmes étrangères» wirft Schlaglichter auf eine rassistische, provinzielle Schweiz. Foto: Julie Folly

Im wuchtigen Bauch der mittelalterlichen Bollwerkfestung wartet die Freilichtaufführung «Fremde Seelen / Âmes étrangères» auf die Dunkelheit. Diese bricht um 22 Uhr zusammen mit einem toxikologischen Befund über das Publikum herein: Eine Pilzvergiftung hat den Dorfpfarrer das Leben gekostet. An seiner Beerdigung – so ist es testamentarisch festgelegt – gibt es «Pilzpastetli».

Das vielsprachige Eröffnungsstück der Dramatikerin Eva-Maria Bertschy feiert am Festival Belluard Bollwerk in Fribourg Schweizer Premiere. Es erzählt von den nebulösen Umständen, unter denen Anfang der nuller Jahre der Pfarrer Franz Hoang in einer beschaulichen Freiburger Berggemeinde zu Tode kam. Auf der Bühne – ein rundes Becken, knöcheltief mit Wasser gefüllt – thront ein übergrosses Medaillon mit aufgemalter Bergkulisse; es wird sich später zum dreiteiligen Spiegel auffächern.

Ein bisschen spiegelt sich darin auch die Situation der künstlerischen Leiterin: Bereits zum fünften Mal hat Laurence Wagner für das Belluard Bollwerk ein anspruchsvolles neuntägiges Programm mit 27 interdisziplinären, internationalen Projekten auf die Beine gestellt – es wird ihr letztes sein. Sein Motto, «Lebenswut», hat sie bewusst gewählt. Das Bild zweier Liebender aus Pompeji, die vor 2000 Jahren von der Lava des Vesuvs überrascht wurden und in ewiger Umarmung erstarrten, habe sie durch die Programmation begleitet. Eine Geste der Liebe. Auch ein Festival zu etablieren, sei eine Lebens- und Liebesgeste, ist die Westschweizerin und frühere Leiterin des Théâtre de l’Usine in Genf überzeugt – hinzugekommen ist die Wut: «Darüber, dass die Lebensumstände nicht für alle Menschen gleich sind. Und darüber, dass es immer schwieriger wird, ein internationales Festival wie das Belluard Bollwerk überhaupt zu organisieren.»

Ein Pfarrer macht alles anders

Franz Hoang, der Protagonist in «Fremde Seelen», war in den neunziger Jahren vor dem kommunistischen Regime in Vietnam geflohen. Sie habe eine vage Erinnerung an den Moment, als ihre Mutter ihr mitteilte, der neue Pfarrer sei «ein Fremder», sagt die Schauspielerin Carol Schuler in der Rolle von Eva-Maria Bertschy einmal. Einige kennen Schuler als toughe Kommissarin aus dem Schweizer «Tatort».

Auch in «Fremde Seelen» leitet sie gemeinsam mit dem Musiker Kojack Kossakamvwe eine Art Befragung zum verstorbenen Hoang ein. Schuler verkörpert dafür ein ganzes Dorf, leiht mal der Ordensschwester, mal dem Gemeinderat oder der Mutter ihre Stimme. Und Kossakamvwes virtuoses Gitarrenspiel wirkt als atmosphärischer Soundtrack einer Ermittlung, die mehr Fragen aufwirft, als sie klärt. In der Gemeinde haben zwar alle eine Meinung zu Hoangs Tod, viele möchten sich dann aber doch lieber nicht zu genau erinnern an das Davor, an die Depression etwa, die dem Pfarrer zusetzte, vor allem aber nicht an den Argwohn, den sie ihm entgegenbrachten, wenn er Mariä Lichtmess nicht in der Grotte abhielt, wie es zuvor doch Brauch gewesen war.

Lange Schatten

Über die katholische Enge des Dorfes und einen vermuteten Pilzsuizid hinaus verdichtet sich das Stück zum musikalischen Zwiegespräch zwischen Kossakamvwe und Schuler, die auf Französisch und Deutsch energisch Volkslieder trällert und gar ein Alphorn zum Klingen bringt. Es wirft Schlaglichter auf eine rassistische, provinzielle Schweiz, in der selbst Dorffriedhöfe so säuberlich herausgeputzt sind, dass Kossakamvwe von einer «Landschaft ohne Geheimnis» spricht. Schliesslich mutiert es zur Selbstbefragung: «Etwas fehlt», wiederholt Schuler immer wieder. «Ist das Heimat?»

Längst hat sich das Festival, das heuer zum 41. Mal stattfindet, vom Geheimtipp zur berauschenden Plattform internationalen Kunstschaffens entwickelt. Die Spielorte erstrecken sich vom historischen Bollwerk quer durch die pittoreske Altstadt Fribourgs bis hin zur ehemaligen Militärkaserne La Poya. Dort erzählen die Künstlerin Tania El Khoury und ihr Mann, der Historiker Ziad Abu-Rish, vom langen Schatten der Kolonialmächte.

Auch ihre Produktion hat reale Hintergründe: Während ihrer Hochzeit in Beirut brach einmal mehr das gesamte Stromnetz zusammen. Das Paar begann zur Stromlobby im Libanon zu forschen und stiess auf erschreckende Verbindungen. Diese Recherchen breiten Tania El Khoury und Ziad Abu-Rish im Verlauf der Installation / Performance «The Search for Power» an ihrem Hochzeitstisch aus – bei flackerndem und zwischenzeitlich ganz ausfallendem Licht. Zuerst aber müssen sich die Besucher:innen – ausgestattet mit Taschenlampen – einen Weg durch die dunklen, verwitterten Lagerhallen suchen.

Beim Belluard Bollwerk funktioniert die Kunst über Nähe und Unmittelbarkeit; sie ist sinnlich, eigenwillig, hat einen politischen Anspruch und vermittelt Gegenwartsgeschichte. «Ich bin überzeugt, dass persönliche Erlebnisse einen besseren Zugang zur Historie ermöglichen als das rein akademische Wissen», so Laurence Wagner. Wenn eine künstlerisch-wissenschaftliche Recherche Verstrickungen zwischen Nord und Süd zutage bringe und diese dann mitten in der Festung Europa gezeigt werden könnten, sei das für sie ein beglückender Moment.

Bürokratie frisst Kreativität

Damit komplexe Kooperationen gelingen, braucht es einen engen Dialog mit den Kunstschaffenden. Und entsprechende Ressourcen. Sie trete zurück, sagt Wagner, weil sie sich wieder mehr Raum für eigene Projekte wünsche – aber auch, weil sie die finanzielle Situation des Festivals ermüde. Auf 850 000 Franken beläuft sich das Budget zurzeit; davon müssen 300 000 Franken selbst akquiriert werden, etwa von privaten Stiftungen. «Die administrativen Tätigkeiten, die nötig sind, um diese zusätzlichen Gelder auch zu bekommen, nehmen immer mehr zu.» Wagner spricht von Anforderungen, die immer «kafkaesker und undurchsichtiger» würden: «Ich bin ständig dabei, die Projekte zu erklären und zu verteidigen; das zehrt an meiner Energie und der meines Teams.»

Sie habe keine Lust, irgendwann ein Festivalprogramm nach Baukästchenprinzip zusammenzustellen. Denn das würde auch bedeuten, dass die Künstler:innen anfangen müssten, nach vorgegebenen Bedingungen zu produzieren. An ihrem ersten Arbeitstag hat Wagner «radical et gentil» an ihre Bürotür geschrieben. Sie ist überzeugt, dass sich diese Eigenschaften vereinen lassen. Aber wenn man dann nur noch nett sein müsse, funktioniere es nicht mehr. Natürlich sei die Erschöpfung eine vielfältige, betont sie. Ihr und ihrem Team sei es etwa wichtig, dass sich die Künstler:innen während des Festivals wohlfühlten, auf ihre Bedürfnisse eingegangen werden könne: «Eine solche emotionale Sorgearbeit wird oft unterbewertet.»

Laurence Wagner setzt mit ihrem Abgang ein Zeichen. Weil es in der Kulturbranche neben Gesten der Liebe und des Lebens auch solche gegen die Selbstausbeutung braucht: «Viele künstlerische Institutionen sind am Rand der Erschöpfung. Trotzdem fällt es den meisten Menschen, die in der Kultur arbeiten, immer noch schwer, über Geld zu sprechen.» Dieses Tabu will sie endlich aufbrechen.

Das Festival Belluard Bollwerk International in Fribourg läuft noch bis am Samstag, 6. Juli 2024. «Fremde Seelen / Âmes étrangères» ist im September 2024 am Theater Neumarkt in Zürich zu sehen.