Theater: Nichts ist so monströs wie der Mensch

Nr. 24 –

Revolte auf Reisen: Beim Heimspiel im Nationaltheater in Gent rührt Milo Raus «Antigone im Amazonas» arg ans Herz. Aber ist Kitsch eine Kategorie im Reden über das Leid anderer?

Foto von Milo Raus Theaterstück «Antigone im Amazonas»
Antigone sagt Nein zum Gesetz, die Land­losen (im Video) sagen Nein zum ­Raubbau des Agrobusiness: Frederico Araujo als griechische Königstochter. Foto: Kurt Van Der Elst

Das barocke NTGent ist ein verzierter Guckkasten, ein Stadttheater, wie sie in der Schweiz noch immer das Bild bestimmen, was Theater sei. Ab Mitte der achtziger Jahre begann die Kulturpolitik mithilfe von klugen, starken Künstler:innen erst in Flandern, dann in den Niederlanden einen Neustart: Sie förderte Gruppen und Projekte und begriff die Häuser eher als Produktionsorte denn als durchgängig finanzierte Kunstburgen.

Künstlerisch war die Initiative ein Riesenerfolg, mehrere global erfolgreiche Regisseur:innen sind daraus hervorgegangen. Die Kehrseite: Projektorientierte Förderung ist im Kern neoliberal und anfällig für politische Konjunkturen, man kann sie radikaler kürzen als die Budgets von Institutionen. Mit einem internationalen Theaterstar wie Milo Rau ist das schwieriger, weil er mittlerweile grösser ist als die einzelnen Strukturen, in denen er arbeitet.

Rau ist überall gleichzeitig. In Gent läuft sein Vertrag noch als künstlerischer Leiter, Intendant der Wiener Festwochen wird er erst 2024 – doch seine aktuelle Produktion war bereits in Wien, drei Wochen nach der Premiere läuft sie erneut in Gent. Er arbeitet an und mit Häusern, in Krisengebieten, er produziert mit vielen potenten Partnern wie den Festivals in Avignon, Manchester, Wien, und er kooperiert dabei oft mit Künstler:innen, die mit dem europäischen System nichts zu tun haben. Sein Schutzschild ist die enorme Vernetzung in alle Richtungen, aus der sein Name als Brand herausragt. Auch an einem der ersten warmen Sommertage, traditionell Kassengift, ist das Theater in Gent restlos ausverkauft.

Alles wie frisch erzählt

Bei allem Spektakulären seiner Arbeit, nach allen Recherchereisen und Dreharbeiten in Krisenregionen und den anschliessenden Welttourneen, vergisst man manchmal, dass Raus Theater auf der Bühne mal besser und mal weniger gut gelingt. Für «Antigone im Amazonas» stellte er mit der brasilianischen Landlosenbewegung MST ein 1996 von der Polizei begangenes Massaker im Amazonas nach, um die Situation mit der antiken Tragödie zu vergleichen (die WOZ berichtete ausführlich, siehe Nr. 19/23).

In Gent nun sitzen die zwei brasilianischen Schauspieler links und die zwei Belgier:innen rechts bereits auf der Bühne, wenn das Publikum den Saal betritt – sie strecken sich, gehen umher, schauen in den Saal. Das Licht ist hell, alles soll wie frisch erzählt wirken. Die Bühne ist von Erde bedeckt, einer spielt leise Gitarre, alle schauen ins Theater. Als würde gleich ein Workshop losgehen.

Als das Licht ausgeht und die Bühne nur noch diesig leuchtet, zitiert der erste Song bereits den Gassenhauer aus dem alten Stück von Sophokles: «Vieles ist monströs, aber nichts so monströs wie der Mensch», sprechsingt Pablo Casella zart auf Portugiesisch (die Übertitel laufen auf Englisch und Niederländisch). Betont sanft führt die Inszenierung in den Stoff, auch wenn Schauspielerin Sara de Bosschere locker erzählt, dass sie schon zum vierten Mal in einer «Antigone» spiele. Heute aber sei sie nicht die Königstochter, die den Bruder wider das Dekret des Königs beerdige, sondern der König selbst: Kreon, der Antigone für ihr Vergehen für die Menschlichkeit einmauern lässt.

In der ehemaligen Kolonialmacht Belgien verstehen das womöglich mehr Leute unmittelbar als in Wien oder auch in Zürich, wo diese «Antigone» 2024 im Schauspielhaus gastieren wird. Die weisse Schauspielerin kann nicht die Geopferte spielen in Zeiten flammender postkolonialer Diskurse. Der Name Kay Sara fällt von nun an sehr oft in diesen zwei Stunden, es ist eine indigene brasilianische Schauspielerin, die im Video die Antigone im Urwald darstellen soll. Die häufige Wiederholung ihres Namens wirkt ein bisschen wie ein Zauber gegen Fallstricke, mit der Zeit auch wie eine Behauptung: Im Video überhäuft Kay Sara ihren Bruder Polyneikes mit Tränen, danach sieht man sie oft in der Gruppe mit den Aktivist:innen der Landlosenbewegung und Indigenen, was ihren Status als Königstochter und Celebrity illustriert, aber dem Stück wenig hinzufügt.

Einfache, kräftige Gesten

Aber der softe Anfang ist nur das Kontrastmittel für das Reenactment des Massakers von 1996, bei dem im Video auch einige mitmachen, die damals davongekommen sind. Reenactments sind quasi Milo Raus Kerngeschäft, und die Nachstellung traumatischer Ereignisse zum Zweck ihrer Bewältigung rührt teils an die griechische Tragödie und ihre Ästhetik, durch den Schrecken an das Leiden zu erinnern, daraus zu lernen, vielleicht sogar so etwas wie Mitleid zu ermöglichen.

Hier lässt der Abend nichts aus. Wie die Szenen auf der Bühne und die Reenactments auf drei hochformatigen Leinwänden ineinandergreifen, ist überwältigend. Die Erde wird aufgewirbelt, die Belgier:innen stecken nun in Polizeiuniformen. Es gibt echte Tränen im Video und falsche auf der Bühne. Sind die zu unterscheiden?

Das ist alles überaus emotional gestaltet, aber auch technisch und spielerisch beeindruckend gelöst. Wie sehr es dazu den antiken Text braucht, ausser damit eine Trilogie zu beenden, für die man viele Fördermittel braucht und viele Anträge schreibt, ist eine andere Frage. Der Abend bemüht sich sehr, den Sophokles nicht zu vergessen, da wird die Inszenierung immer wieder didaktisch. Aber im Kern geht es um einfache, kräftige Gesten: Antigone sagt Nein zum Gesetz, die Landlosen sagen Nein zum Raubbau des Agrobusiness an ihrem Lebensraum.

Und doch überrascht Raus Inszenierung auch nach der emotionalen Klimax mit komplexen Ideen und Entwicklungen. Auf der Bühne spricht Frederico Araujo, auch er teilweise indigener Herkunft, die Texte von Antigone wie ihrem Bruder Polyneikes, den sie widerrechtlich begräbt: Die Person, die begräbt, wird selbst begraben – das lässt die Option offen, wieder auferstehen zu können. Es ist ein schönes Bild für den Kampf, der immer von neuem beginnt.

Die Europäer:innen haben auch ihre Soli, und da beginnt die Inszenierung, über sich selbst zu sprechen. Arne Tremerie spielt Haimon, den Geliebten von Antigone und Sohn des Kreon. Wie er im Falsett von Haimon singt und das blitzschnell mit seinen Erfahrungen im Urwald montiert, ist ein zweiter Höhepunkt des Abends. Nicht nur weil der junge Schauspieler das toll spielt, sondern weil er damit auch den wunden Punkt der Inszenierung offenlegt: Die Europäer:innen sind im Urwald auch einfach touristisch überwältigt. Was da gerade historisches Schuldbewusstsein ist und was die zwangsläufig exotische, intensive Erfahrung von so viel Differenz und Unterdrückung, vermischt sich vor unseren Augen.

Wie viel Gefühl im Schrecken?

Wenn man kurz einen Schritt zurück macht und Raus Werk der letzten Jahre mit etwas Distanz betrachtet, zeigt sich eine experimentelle Anordnung. Die Frage des Experiments lautet: Wie viel Pathos verträgt der dokumentarische Ansatz, aktuelle Konflikte auf der Folie kanonischer Texte zu lesen, wie viel Gefühl hat Platz im Schrecken, und wie viel Kitsch ist dabei in Kauf zu nehmen? Auf diese Fragen hat «Antigone im Amazonas» die bislang wohl schlüssigste Antwort gefunden. Denn der zweistündige Abend badet zwar im Gefühl, doch die Transparenz der künstlerischen Mittel und der harte Stoff werfen den Kitschvorwurf auf das Publikum zurück: Ist Kitsch eine Kategorie, um mich vor Mitleid oder Solidarität zu schützen?

Am Ende sind nur die Europäer:innen tot, die anderen stehen auf. Man müsste in ein paar Jahren noch mal zu den Landlosen fahren, wenn die mit Sicherheit weltweite Tournee dieser Produktion zu Ende sein wird, um zu schauen, ob die am Abend oft wiederholte Behauptung stimmt, dass dieses Theater vor Ort zur Traumabewältigung beitrug. Bis dahin sieht es eher danach aus, als habe Europa etwas zu bewältigen an diesem Abend. Die Landlosen vor Ort wissen ja schon, was politische Arbeit ist.