Rashid Khalidi: «Es braucht absolut gleiche Rechte»

Nr. 28 –

Rashid Khalidi gehört zu den prominentesten Historiker:innen des Nahen Ostens. In einem Buch beschreibt er den «Hundertjährigen Krieg um Palästina». Ohne eine Anerkennung des Leids der arabischen Bevölkerung könne es keinen gerechten Frieden geben, sagt er.

Foto des Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Libanon, 1952
«Man kann nicht so tun, als hätte es das enorme Leid, das den Palästinenser:innen systematisch und absichtlich zugefügt wurde, nicht gegeben.» Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Libanon, 1952.
 
Foto: S. Madver, AKG-Images

WOZ: Rashid Khalidi, Sie arbeiten zur Geschichte des Nahen Ostens. Seit dem 7. Oktober 2023 ist Ihr Forschungsgebiet zugleich das meistdiskutierte Thema der Weltpolitik. Was bedeutet das für Sie als Wissenschaftler, aber auch als US-amerikanischer Palästinenser?

Rashid Khalidi: Zunächst einmal bedeutet es viel mehr mediale Aufmerksamkeit. 2020 habe ich ein Buch veröffentlicht, das eben auf Deutsch erschienen ist: «Der Hundertjährige Krieg um Palästina». Vor dem 7. Oktober hat es sich nicht schlecht verkauft, aber seither ist es durchgehend auf der «New York Times»-Bestsellerliste, und ich bin mit öffentlichen Auftritten vielbeschäftigt. Doch ich habe auch Familie in Gaza, Ramallah, Jerusalem und andernorts in Palästina. Darum weiss ich sehr genau, was dort passiert. Diese Zeit ist unglaublich schmerzvoll.

Erschwert Ihnen die persönliche Betroffenheit nicht, eine wissenschaftliche Perspektive einzunehmen?

Nein, die historischen Fragen werden dadurch nicht komplizierter. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie völlig objektive Geschichtsschreibung gibt. Welchen Blickwinkel man hat, welche Verbindungen zu Orten oder Gruppen, beeinflusst, wie man die Dinge sieht. Schwieriger ist es, wenn es um aktuelle Ereignisse geht. In den USA und in vielen europäischen Ländern sehen Politiker:innen und die meisten Medien den Konflikt immer noch vor allem aus einer israelischen Perspektive. Zumindest in den Medien, die ich konsumiere – der «New York Times», CNN oder der «Washington Post» –, ist das der Fall. Zu zeigen, dass die israelische Position nicht die einzige und in vielen Fällen komplett falsch ist, ist nicht immer einfach.

Portraitfoto von Rashid Kalidi
Rashid Khalidi Foto: Alex Levac

Es gibt aktuell aber auch viel Solidarität mit den Palästinenser:innen.

In den USA und in vielen europäischen Ländern gab es in den vergangenen Monaten eine gewaltige Verschiebung hin zu einem ausgeprägteren Verständnis für die palästinensische Perspektive und eine grössere Skepsis gegenüber dem, was Israel immer behauptet hat – zum Beispiel, es sei die einzige Demokratie im Nahen Osten. Israel hält eine Bevölkerung seit 75 Jahren unter einem militärischen Besatzungsregime, das ist nicht demokratisch. Vor allem jüngere Menschen glauben solche Lügen nicht mehr. Sie sind von etablierten Medien weniger abhängig. Wenn in einem Geflüchtetenlager Kinder verbrennen, folgen in den Zeitungen drei Absätze mit Rechtfertigungen: «Die israelische Armee teilt mit …» Aber die jungen Leute haben es in Videos mit ihren eigenen Augen gesehen. Das gilt übrigens seit dem Anfang dieses Krieges. Man hat die Gräueltaten am 7. Oktober gesehen; ich glaube nicht, dass irgendjemand sie nicht gesehen hat. Aber man hat auch gesehen, was seither passiert ist.

Denken Sie bei dieser Perspektivenverschiebung auch an die Besetzungen an den Hochschulen? Über jene an Ihrer eigenen Universität, der Columbia, wurde ja sehr viel geschrieben.

Nein, die Studierendenproteste sind nur die Spitze des Eisbergs. Eine überwiegende Mehrheit der jungen US-Amerikaner:innen lehnt Präsident Bidens Politik gegenüber Gaza ab und ist für einen dauerhaften Waffenstillstand. Dazu kommen die United Auto Workers, die Gewerkschaften der Pfleger:innen oder der Postarbeiter:innen: Sie sind standhafte Unterstützer:innen der Demokratischen Partei und haben sich nun wegen des Krieges gegen ihren Präsidenten gestellt.

Haben Sie das kommen sehen?

Es hat mich sehr überrascht. Und ich begrüsse es. Aber man sollte nicht vergessen, wie zögerlich die Eliten darin sind, ihre Positionen zu verändern. Was wir beobachten, ist eine Verschiebung an der Basis, unter Jungen, Minderheiten, Ärmeren.

Was wird aus den Protesten werden?

Der Versuch, sie zu unterdrücken, wird vermutlich nur noch brutaler. Tatsächlich verhalten sich die Entscheidungsträger:innen ziemlich hysterisch, aber auch in der ganzen westlichen Welt sehr einheitlich: Die Polizei in Wien verhält sich exakt gleich wie die Polizei in New York; zu den Protesten hören wir die exakt gleiche Rhetorik: von externen Agitator:innen und Terrorismus und dass die Protestierenden die Hamas unterstützen würden.

In Wien waren Sie kürzlich eingeladen, per Videoübertragung einen Vortrag zu halten. Dann schritt die Universitätsleitung ein.

Das Rektorat verhinderte, dass der Vortrag in einen Vorlesungssaal übertragen wurde. Als die Studierenden draussen vor dem Gebäude eine Übertragung organisieren wollten, rief die Unileitung die Polizei und verhinderte auch das. Am Schluss versammelten sich 800 Leute, die den Vortrag über ihre Handys verfolgten – die Studierenden waren schlauer. Den Organisator:innen wurde mitgeteilt, es gehe um Sicherheit. Das ist die übliche Lüge, wenn Veranstaltungen gecancelt werden. Eine Veranstaltung in London, an der ich teilnehmen sollte, wurde ebenfalls aus diesem Grund abgesagt.

Ihnen ist das also nicht zum ersten Mal passiert …

Mir nicht und vielen anderen nicht. Einem Freund von mir, dem britisch-palästinensischen Arzt Ghassan Abu-Sittah, wurde gar die Einreise nach Deutschland verweigert. Sein Anwalt hat erreicht, dass die deutsche Regierung die Einreisesperre aufheben musste, aber für eine Weile durfte er in kein Schengen-Land einreisen. Der Verleger der deutschen Ausgabe meines Buchs vom Zürcher Unionsverlag hat mir empfohlen, im Moment nicht für Lesungen nach Deutschland zu reisen.

Aus grundrechtlicher Perspektive klingt das haarsträubend.

Was wir beobachten, könnte die Spitze eines Keils sein, der unsere demokratischen Rechte zunehmend einschränken wird. In den USA wird der Vorwand des Antisemitismus im Grunde dafür benutzt, die Debatte abzuwürgen. Es mag bei den Protesten antisemitische Vorfälle gegeben haben, aber beim Protest geht es nicht darum, sondern um die Kritik an der Politik eines Nationalstaats, an Vertreibung, rassistischer Unterdrückung. Es geht nicht um Jüdinnen und Juden.

Halten Sie die Kritik an linkem Antisemitismus denn für hinfällig?

Unsere Gesellschaften sind durchsetzt mit Antisemitismus. Das ist kein neues Phänomen und ursprünglich auch keines des Nahen Ostens, sondern ein europäisch-christliches. Die Doktrin, dass die Juden Jesus getötet hätten, galt in der katholischen Kirche bis in die 1960er Jahre. Wir sprechen von einer Gesellschaft, die Jüdinnen und Juden ausgrenzte und tötete, vom Mittelalter bis heute. Es gibt ein riesiges Antisemitismusproblem in westlichen Gesellschaften, das sich in allen Bereichen auswirkt. Hat es auch den Widerstand gegen Israel beeinflusst? Natürlich! Aber es ist nicht das Kernproblem. Im Fokus steht die Opposition gegen die israelische Politik, die auch von vielen Jüdinnen und Juden sowie Israelis kommt. Dass Organisationen wie Jewish Voice for Peace oder Not in Our Name, die vor allem aus jüdischen Amerikaner:innen bestehen, als antisemitisch bezeichnet werden, ist die Höhe der Absurdität.

In Ihrem Buch verknüpfen Sie historische Zusammenhänge mit der Geschichte Ihrer eigenen Familie, schreiben über Ihre Grosseltern, die während der Nakba vertrieben wurden, wie Sie Ihren Vater begleitet haben, als er Berichte für den Uno-Sicherheitsrat schrieb, über Ihre Treffen mit palästinensischen Politiker:innen. Wieso haben Sie sich für diese Form entschieden?

Auf die Aktivitäten von Mitgliedern meiner Familie im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina und im Osmanischen Reich stiess ich während der Forschung zu einem Buch, das vor fast dreissig Jahren erschienen ist. Jetzt in der ersten Person darüber zu schreiben, ging eigentlich gegen alles, was mir als Historiker beigebracht wurde. Dass ich es trotzdem gemacht habe, hat auch mit meinem Sohn zu tun, der mich dazu drängte, ein Buch zu schreiben, das auch für eine breite Leser:innenschaft zugänglich ist. Ich erzähle etwa, wie ich meinen Vater 1967 während des Sechstagekriegs zu den Sitzungen des Sicherheitsrats in New York begleitete, wo er in der Verzögerungstaktik des US-Botschafters die Anfänge der bis heute anhaltenden bedingungslosen Unterstützung der israelischen Politik durch die USA beobachtete.

Im Buch wollen Sie auch zeigen, wie der palästinensische Widerstand die Geschichte des Nahen Ostens geprägt hat.

Das ist einer von drei Strängen. Die anderen sind die direkten Eingriffe der Grossmächte – von der Balfour-Deklaration 1917, in der sich das britische Empire hinter das zionistische Projekt stellte, bis heute – sowie das Wesen des kolonialen Siedlerregimes, das Israel durchgesetzt hat. Ich argumentiere, dass das, was Israel jetzt im Gazastreifen macht, klassische siedlerkoloniale Techniken sind: Palästinenser:innen in immer kleineren Gebieten zu isolieren, Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, ethnische Säuberung. Israel mag ein nationales Projekt wie auch ein Zufluchtsort für die europäischen Jüdinnen und Juden vor der Verfolgung in Europa sein. Aber es ist auch ein siedlerkoloniales Projekt. Nur so kann man den palästinensischen Widerstand dagegen verstehen, etwa die grosse Revolte von 1936 bis 1939, die mithilfe britischer Truppen niedergeschlagen wurde.

Die Errichtung des Staates Israel als Siedlerkolonialismus zu charakterisieren, ist umstritten. Wie begründen Sie die Verwendung dieses Begriffs?

Bis zum Zweiten Weltkrieg war die zionistische Bewegung durchaus bereit zu erklären, dass sie ein koloniales Projekt verfolgte. Davon zeugen die Worte von Ze’ev Jabotinsky, dem Vordenker der politischen Strömung, die die israelische Politik seit 1977 dominiert; zu ihr gehören Premierminister wie Ariel Scharon, Ehud Olmert oder Benjamin Netanjahu. 1923 schrieb Jabotinsky: «Jede einheimische Bevölkerung der Welt wehrt sich gegen Kolonisten, solange sie die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr der Kolonisierung befreien zu können. Das ist es, was die Araber in Palästina tun und was sie weiterhin tun werden, solange es einen einzigen Funken Hoffnung gibt, dass sie die Umwandlung von ‹Palästina› in das ‹Land Israel› verhindern können.» Und er fügte hinzu: «Die Kolonisierung kann nur ein Ziel haben, und die palästinensischen Araber können dieses Ziel nicht akzeptieren. Die zionistische Kolonisierung muss entweder aufhören oder ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung weitergehen.»

Sie haben auch von «ethnischer Säuberung» gesprochen – ebenfalls ein kontroverser Begriff.

Die Umsiedlung der gesamten oder eines Teils der einheimischen Bevölkerung gehörte stets zu den Methoden einer Bewegung, die einen jüdischen Staat in einem überwiegend arabischen Land errichten wollte – 1947 lag der Anteil der arabischen Bevölkerung in Palästina noch bei 65 Prozent. Der Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, vermerkte 1905 in seinem Tagebuch: «Die einheimische arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Land jederlei Arbeit verweigern.» David Ben-Gurion, der spätere erste Ministerpräsident Israels, verwendete einen anderen Euphemismus für die Beseitigung der arabischen Bevölkerung; der Begriff ist auch in der Teilungsempfehlung der britischen Peel-Kommission von 1937 zu lesen: Er sprach vom «Transfer» der arabischen Bevölkerung. Zu verschiedenen Zeiten sagte Ben-Gurion, dieser solle obligatorisch sein.

Sie beschreiben, wie in Briefen, Regierungserklärungen oder Resolutionen immer wieder versucht wurde, die Palästinenser:innen zum Verschwinden zu bringen. Quasi als Urszene davon zitieren Sie ein eindrückliches Dokument: einen Briefwechsel von 1899 zwischen Ihrem Ururgrossonkel Yusuf Diya, einem Gelehrten und Beamten in Jerusalem, und Theodor Herzl, dem Gründer der zionistischen Bewegung. Herzls Antwort auf Diyas Bedenken wegen der möglichen Verdrängung der arabischen Bevölkerung ist die erste bekannte Erwiderung auf einen palästinensischen Einwand gegen die zionistischen Pläne für Palästina.

Der Briefwechsel zeigt, wie sich die Palästinenser:innen schon früh behaupteten, aber auch, wie ihre Existenz ignoriert wurde. Herzls Brief ist ein Meisterwerk der Ausflucht. Yusuf Diya hatte das Problem aufgeworfen: dass der Aufbau eines jüdischen Staates die Vertreibung der damaligen arabischen Bevölkerung zur Folge haben würde. Herzl ging nicht darauf ein und antwortete, die jüdische Einwanderung werde der einheimischen Bevölkerung zugutekommen – das koloniale Standardargument.

Heute aber existiert der Staat Israel nun einmal und hat mittlerweile selbst eine lange Geschichte. Wie soll das Wissen um seine Entstehung die heutige Politik informieren?

Das Erste ist: Für eine nachhaltige und gerechte Lösung muss diese Geschichte anerkannt werden. Man kann nicht weitermachen und so tun, als hätte es das enorme Leid, das den Palästinenser:innen systematisch und absichtlich zugefügt wurde, nicht gegeben. Das braucht Zeit, und es ist heute schwieriger, als dies vor ein paar Jahren gewesen wäre. Zweitens braucht es eine Basis, auf der die beiden Völker gemeinsam auf diesem Land leben können. Ob das in einem Staat ist oder in zwei, in einem binationalen oder föderalen – ich weiss es nicht. Wir sind so weit von einer Lösung entfernt, dass die Frage fast irrelevant scheint. Aber auf einem Punkt beharre ich: Es braucht absolut gleiche Rechte. Es kann nicht sein, dass die Sicherheit der einen Gruppe auf Kosten der Sicherheit der anderen Gruppe geht. Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch eine instabile Situation, die immer wieder zu Gewalt führen wird.

Geschichte des Nahen Ostens : Palästinensische Perspektiven

Rashid Khalidi (75) ist Edward-Said-Professor für Modern Arab Studies an der Columbia University in New York. Seine Arbeit als Historiker dreht sich vor allem um die Geschichte des Nahen Ostens aus einer palästinensischen Perspektive. Als sein wichtigstes Buch gilt «Palestinian Identity. The Construction of Modern National Consciousness». Darin zeigt er auf, dass es bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts eine kollektive palästinensische Identität gab – und diese nicht bloss in Reaktion auf den Zionismus entstand, wie oft behauptet wurde.

Khalidi stammt aus einer wohlhabenden palästinensischen Familie. Sein Ururgrossonkel, der Gelehrte Yusuf Diya, teilte Theodor Herzl, dem Gründer der zionistischen Bewegung, 1899 in einem Brief seine Bedenken über die drohende Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der Gründung eines israelischen Staates mit. Sein Onkel Hussein Khalidi war in den dreissiger Jahren Bürgermeister von Jerusalem und wurde von den britischen Mandatsbehörden auf die Seychellen deportiert, weil er sich für die Unabhängigkeit Palästinas einsetzte.

Diese Vorfahren treten auch in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch «Der Hundertjährige Krieg um Palästina» (Unionsverlag, 384 Seiten, 37 Franken) auf. Darin schreibt Khalidi eine Geschichte der Kriegserklärungen der Grossmächte und des israelischen Staates an die palästinensische Bevölkerung – von der Balfour-Deklaration, in der die Briten 1917 ihre Unterstützung des Zionismus festschrieben, bis zur jahrelangen Blockade und der Serie von Angriffen auf den Gazastreifen in der jüngeren Vergangenheit. Khalidi verfolgt dabei keinen simplen antiimperialistischen Ansatz, sondern verknüpft in zugänglicher Sprache die Rolle zentraler Figuren mit ökonomischen und politischen Zusammenhängen und zeigt immer wieder den Einfluss des palästinensischen Widerstands auf die Geschichte des Nahen Ostens auf.