Auf allen Kanälen: Gut desinformiert

Nr. 32 –

Falschmeldungen auf Social Media befeuern rassistische Krawalle in Grossbritannien. Aber auch etablierte Medien tragen Verantwortung.

stilisiertes Logo der Zeitung The Telegraph

Die Schlagzeilen in Grossbritannien waren in den vergangenen Tagen dominiert von rechtsextremer Gewalt. Von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und Übergriffen auf Minderheiten. Was mit sehr realer Brutalität endete, hatte jedoch als Ausgeburt der rechten Fantasie begonnen.

Der erste «Protest» begann am Tag nach dem Messerangriff im nordenglischen Southport. Über den Angreifer war in jenen ersten Tagen kaum etwas bekannt – er hatte ein Recht auf Anonymität. Aber es dauerte nicht lange, da begannen die Gerüchte in den sozialen Medien. Der Täter sei ein «muslimischer Migrant», behauptete ein rechtsextremer X-Account namens «Europe Invasion». Im Nu verbreitete sich die Falschmeldung. Der frauenfeindliche Influencer Andrew Tate schaltete sich ein und sagte, ein «illegaler Migrant» habe «sechs Mädchen erstochen». Irgendwann saugte sich jemand – wer genau, ist unklar – einen muslimisch klingenden Namen aus den Fingern und behauptete, so heisse der Täter. Die dubiose, auf Clickbaits spezialisierte Website Channel 3 Now verbreitete den Namen weiter.

Empörung klickt gut

Freilich waren das alles Hirngespinste. Die Polizei dementierte die Gerüchte über den Täter noch am Montagnachmittag ausdrücklich, aber da war es schon zu spät. Gut vernetzte rechtsradikale Accounts stürzten sich auf die Desinformation und brachten sie unter die Leute. Bald kam der erste Aufruf zu einem «Protest» in Southport, er wurde zunächst über Tiktok und den Messenger Telegram geteilt, dann über X weiterverbreitet.

Der Fall Southport ist ein Lehrstück in Sachen Desinformation und soziale Medien. Er zeigt, wie Plattformen extreme Stimmen verstärken, weil die Algorithmen Empörung höher gewichten als Information. Und wie einige wenige Leute einen sehr grossen – und sehr destruktiven – Einfluss haben können.

Ein Beispiel: 2018 war der prominente englische Rechtsradikale und vorbestrafte Gewalttäter Tommy Robinson von Twitter verbannt worden. Aber nachdem Elon Musk die Plattform übernommen hatte, wurden er sowie andere Rechtsextreme im November 2023 wieder zugelassen. Das hat laut Expert:innen dazu beigetragen, dass sich die radikale Rechte in Grossbritannien in den sozialen Medien weiter organisieren konnte. Apropos Musk: Der Milliardär selbst fühlte sich am Sonntag zu einer Intervention in die Ereignisse in Grossbritannien berufen. Als eine rechte US-amerikanische Journalistin die Krawalle als Konsequenz von «Massenimmigration und offenen Grenzen» bezeichnete, griff Musk zum rhetorischen Ölkanister: «Bürgerkrieg ist unvermeidbar», kommentierte er.

Aber es geht bei diesem Ausbruch rechtsextremer Gewalt um mehr als Plattformdesinformation. Denn dass Tausende Rechtsradikale in Windeseile auf die Strasse gehen, um Migrant:innen anzugreifen, ist nur möglich, weil rassistischer Extremismus in Grossbritannien seit Jahren auf dem Vormarsch ist.

Dafür sind auch die etablierten Medien verantwortlich. Etwa der Fernsehsender GB News. Bis auf wenige Ausnahmen kommen dessen Moderator:innen aus der rechten Ecke des politischen Spektrums. Sie schimpfen im TV über Einwanderung und warnen vor einer islamistischen Unterwanderung der britischen Politik. Nigel Farage, Vorsitzender der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Partei Reform UK, hat auf dem Kanal eine eigene Sendung (er gab den Posten auf, um sich ins Parlament wählen zu lassen, sollte aber bald wieder vor den Kameras sitzen).

«Rechtes Ökosystem»

Auch in Magazinen wie dem «Spectator» oder Zeitungen wie dem «Daily Telegraph» und der «Daily Mail» lassen Kolumnist:innen ihrer Islamophobie und Migrationsfeindlichkeit freien Lauf. Laut der Antirassismuskampagne Hope Not Hate sind solche Publikationen Teil eines «rechten Ökosystems», das immer einflussreicher geworden ist.

Auch nach Tagen der Gewalt, die bei Muslim:innen, anderen Minderheiten und Geflüchteten grosse Sorgen um ihre Sicherheit ausgelöst haben, fehlt es in manchen Redaktionen immer noch an Verantwortungsbewusstsein. So druckte am Montag der «Telegraph» die Schlagzeile: «Rechtsextreme und Muslime geraten in Krawallen aneinander». Es ist eine erschreckende Verdrehung der Tatsachen, die den Opfern die Mitschuld daran gibt, dass sie angegriffen werden.