Radikalisierung von Jugendlichen: Es passiert nicht nur im Netz

Nr. 11 –

Der Messerangriff auf einen orthodoxen Juden in Zürich schockiert die Schweiz. Vieles deutet darauf hin, dass der Täter auch dank Dynamiken im Netz zum Extremisten wurde. Wie funktioniert Radikalisierung?

Salafismus-Influencer Mohamed Hoblos in einem Tiktok-Video
Nur wer nicht betet, sündigt schwer: Mohamed Hoblos erreicht mit seinen Videos Hunderttausende – und nur wenige Klicks entfernt lauert der IS. Screenshot: Tiktok

«Hört aufmerksam zu!», ermahnt der australische Influencer Mohamed Hoblos auf Englisch mit erhobenem Zeigefinger. «Ihr könnt der grösste Mörder sein, der dreckigste Vergewaltiger», sagt er einleitend im Video auf der Plattform Instagram, das mit leiser Ambientmusik unterlegt ist und in dem er mit einem Mikrofon in der Hand in einer Art Konferenzraum auf und ab geht. «Du kannst die schlimmsten Sünden begehen, doch alle Sünden zusammen sind weniger schlimm, als ein Gebet zu versäumen!», schreit er, mittlerweile aufgebracht, in sein Mikrofon.

Mit seinem charismatischen Auftreten und den klaren Ansagen hat Hoblos Erfolg: Das einminütige Video hat 25 000 Likes allein auf Instagram und Millionen von Views durch sogenannte Crosspostings, also das Verbreiten der Inhalte auf weiteren Plattformen wie Tiktok oder Youtube. Von Hunderttausenden Follower:innen wird Hoblos als salafistischer Superstar gefeiert.

Der Salafismus ist eine ultrakonservative, heterogene Strömung innerhalb des Islam, hierzulande aber ein Randphänomen: Forscher:innen der Universität Luzern gehen von ungefähr 400 bis 1100 Salafist:innen in der Deutschschweiz aus. Hoblos ist aber nicht bloss ein Konservativer, der seinen Follower:innen Ratschläge für ein korrektes religiöses Leben erteilt, er ist auch eng in extremistischen Kreisen vernetzt. Dazu gehören beispielsweise Personen aus dem Umfeld des Islamischen Staates (IS). Während Hoblos’ Beiträge verhältnismässig harmlos sind, gelangt man von diesen mit wenigen Klicks zu Aufrufen zum Heiligen Krieg.

Auch Schweizer:innen folgen Hoblos in den sozialen Medien, und nicht nur dort: Mitte Januar sollte er an einem geheimen Ort in der Schweiz auftreten und zum Thema «Wiederbelebung der Umma», der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, sprechen. Die Behörden verwehrten ihm zwar die Einreise, doch er ist bei weitem nicht der Einzige: Regelmässig treten salafistische Prediger in der Schweiz auf.

Zu Beginn steht oft eine Krise

Auch der fünfzehnjährige Jugendliche aus dem Kanton Zürich, der am 2. März auf offener Strasse einen jüdischen Mann niederstach und lebensgefährlich verletzte, stand offenbar auf verschiedenen Plattformen in Verbindung mit IS-nahen Kreisen. Zu diesem Schluss kommt eine Recherche des «Tages-Anzeigers», die das Bild einer zunehmenden Onlineradikalisierung zeichnet. So habe der Jugendliche anfänglich Gamingvideos verbreitet, in die Schnipsel hassschürender Propagandavideos eingestreut gewesen seien. Nach dem 7. Oktober 2023 gab er sich auf der Plattform X als IS-Sympathisant zu erkennen. In einem Video, das mittlerweile aus den sozialen Medien gelöscht worden ist, bekannte er sich zu seiner antisemitischen Hasstat.

Die Prävention gegen zunehmende Radikalisierung im Netz, die nun auch Eingang in die politische Agenda gefunden hat, ist nicht neu und nicht auf die Schweiz beschränkt. So hat etwa auch die EU das Thema unlängst zu einer Priorität erklärt. Doch wie bedeutend ist die Rolle der sozialen Medien tatsächlich? Und wie gross die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche allein durch Beeinflussung im Netz zu extremistischen Täter:innen werden?

«Klein», sagt Mirjam Eser Davolio. Sie lehrt und forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften unter anderem zu dschihadistischer Radikalisierung und Rechtsextremismus. «Die sozialen Medien können eine Rolle spielen, sind aber nie der alleinige Treiber», so die Extremismusexpertin. Sie publizierte 2019 eine Studie, bei der sie Daten des Nachrichtendiensts über 130 dschihadistisch radikalisierte Personen auswertete. Als solche gelten Leute, die nicht nur eine islamische Weltordnung errichten, sondern diese auch mit Gewalt durchsetzen wollen. Unter den untersuchten Personen sei es mit einer Ausnahme nie zu einer Radikalisierung ohne realweltliche Kontakte zu bereits Radikalisierten gekommen, betont Eser Davolio.

Obwohl die Studie im kurzlebigen Onlinezeitalter verhältnismässig alt ist, sagt sie: «An den grundlegenden Dynamiken hat sich nichts verändert.» Die Datenlage sei aktuell noch zu dünn, um auf eine verstärkte Onlineradikalisierung zu schliessen. Die Professorin leitet ein laufendes Projekt zur Erarbeitung eines Extremismusberichts für die Städte Zürich und St. Gallen, das auch die Rolle der sozialen Medien untersucht. Der Bericht soll im Sommer 2025 publiziert werden.

Am Ende einer Radikalisierung herrscht in der Regel ein extremistisches Weltbild vor, das mit Gewalt verteidigt wird. Am Anfang steht aber bei vielen eine schwerwiegende persönliche Krise, etwa der Tod eines Familienmitglieds, ein Jobverlust, eine Identitätskrise. Ebenfalls wichtig im Prozess der Radikalisierung seien das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und die Ausbildung ausgeprägter Freund-Feind-Schemata, erklärt Eser Davolio. Die sozialen Medien seien insbesondere auf einer ersten Radikalisierungsstufe wichtig: «Am Anfang steht eine wahrgenommene Ungerechtigkeit, die Empörungspotenzial birgt.» Gerade Empörungsgefühle könnten in den sozialen Medien sehr gut gelenkt und verstärkt werden. Bis man sich irgendwann in einer Blase befindet, in der man nur noch gleichlautende Inhalte vorgesetzt bekommt – eine Dynamik, die durch die Algorithmen der Plattformen verstärkt wird.

Antisemitische Flut auf Tiktok

Die Radikalisierung im Netz erfolgt auch bei Bewegungen unterschiedlicher Ideologie immer nach ähnlichen Mustern. Auch Rechtsextreme nutzen crossmediale Strategien und posten Beiträge, die sich zum Teil vordergründig um Musik, Gaming oder Kleidermarken drehen. Schnell ist man aber auch hier etwa bei Erklärvideos zu Begriffen wie «Asylapokalypse», bei Holocaustwitzen und Aufrufen zu Gewalt.

Wie eine Analyse der deutschen Amadeu-Antonio-Stiftung zu rechter Mobilisierung zeigt, werden User:innen von Inhalten auf moderierten Plattformen wie Instagram oft zu nichtmoderierten, anonymen Kanälen wie Telegram weitergeleitet. Auf Telegram entfallen laut einem diese Woche veröffentlichten Bericht der Schweizer Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus auch die meisten online registrierten antisemitischen Inhalte. Allgemein kommt der Bericht zum Schluss, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle im vergangenen Jahr im Netz, vor allen Dingen aber im realen Leben stark gestiegen ist.

Während die Schweizer Untersuchung, die sich online auf Telegram und Facebook konzentrierte, keine starke Zunahme nach dem 7. Oktober feststellte, registrierte die deutsche Bildungsstätte Anne Frank auf Tiktok in diesem Zeitraum geradezu eine Flut antisemitischer Inhalte und Fehlinformationen. Dieselbe Studie beobachtet zudem eine Art «Speedradikalisierung» auf Tiktok und meint damit, dass Influencer:innen, die sich zuvor nie politisch geäussert hätten, in den vergangenen Monaten Falschinformationen im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza verbreiteten. Kontroll- und Schutzmechanismen auf der eigentlich moderierten Plattform funktionierten schlecht: Extremistische Inhalte werden oft erst gelöscht, wenn sie gemeldet werden.

Fascho-Games

In Deutschland gehören Rechte und Rechtsextreme, darunter auch Parlamentarier:innen, zu fleissigen Nutzer:innen von Plattformen wie Tiktok. Sie nutzen die sozialen Netzwerke auch, um im echten Leben zu mobilisieren. So machen sie Werbung für völkische Wandertage oder Kennenlernabende. Auch Mirjam Eser Davolio sagt, extremistische Inhalte würden nach wie vor nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch an realen Orten wie in Bars, bei Kampfsportevents oder religiösen Anlässen verbreitet. Diese realweltlichen Treffen seien wichtig für den Beziehungsaufbau und die Herstellung eines Gruppengefühls.

Auch Schweizer Rechtsextreme sind in den sozialen Medien präsent. Ein Beispiel dafür ist Moritz F. von der Jungen Tat, die wegen fehlenden Nachwuchses mittlerweile an Bedeutung verloren hat. Wie ein Antifa-Recherchekollektiv im Sommer 2022 aufdeckte, war F. unter dem Alias «Kvlt_spooky» in den sozialen Medien präsent und gehörte zu den Designern der rechtsextremen «Kvltgames». Deren Spiele wie «Heimat Defender: Rebellion» gelten in Deutschland als jugendgefährdend, da sie antisemitische und homophobe Inhalte verbreiten. In einem dieser Spiele, das im Hamburg des Jahres 2084 spielt, müssen Gamer:innen etwa gegen «Globohomo-Eliten» kämpfen. Bekannte Rechtsextreme wie der AfD-Politiker Björn Höcke oder der österreichische Identitäre Martin Sellner werden darin zu Helden stilisiert, die die Welt retten.

Gegennarrative entwickeln

Was für Rezepte gibt es, um potenziell gefährlichen Entwicklungen Gegensteuer zu geben? In der Schweiz hat die nationale Plattform «Jugend und Medien» 2020 eine Publikation mit dem Titel «Narrative zur Prävention von Online-Radikalisierung» herausgegeben. Die Mischung aus Studie und Broschüre enthält Beispiele dafür, wie im Netz unter Partizipation von Jugendlichen und Influencer:innen Gegennarrative geschaffen werden können. Gemeint sind Botschaften, die, etwa verpackt in Videos oder Textbeiträge, statt Hass und Propaganda Werte wie Toleranz oder Vielfalt vermitteln. Gegennarrative können aufklärerisch sein und gezielte Desinformationen entlarven und dekonstruieren, sie können aber auch für sich alleine stehen. Beispiele sind etwa Erklärvideos zu Fragen wie dem Umgang mit Gewalt im Islam oder zur tatsächlichen Bedeutung des Begriffs «Dschihad».

Die Plattform «Jugend und Medien», die dem Bundesamt für Sozialversicherungen angegliedert ist, hat das Ziel, Medienkompetenz und Prävention zu fördern. Sie richtet sich mit ihrem Angebot nicht direkt an Jugendliche, sondern an Fachpersonen und Eltern. Nina Hobi ist Projektleiterin bei «Jugend und Medien» und betont, wie schwierig Präventionsarbeit im Bereich Onlineradikalisierung sei: «Man muss sich gleichzeitig mit Radikalisierung auskennen, mit Hass im Netz, und wissen, wie sich Jugendliche online verhalten.» Nationale Stellen, die sich aktiv um die Verbreitung von Gegennarrativen kümmern oder aufsuchende Onlinejugendarbeit betreiben, gebe es keine.

Klar ist: Die Gesellschaft muss genau hinschauen, was sich in den sozialen Medien tut. Nur schon darum, weil 98 Prozent der Jugendlichen sie nutzen, oder auch, weil Onlineinhalte nicht an Staatsgrenzen haltmachen.