Sachbuch: Sogar abschieben wollten sie ihn
Je länger er verfolgt wurde, desto mehr wurde er zum Aktivisten: Jakob Rudolf Forster war der wohl erste Schweizer Vorkämpfer für die Rechte der Schwulen. Eine Biografie beleuchtet jetzt den Toggenburger und seine Zeit.
1879 ist einiges los in der Ostschweiz: Die Region erholt sich langsam von einer schweren Wirtschaftskrise, am Schützenfest in Flawil wird erstmals elektrisches Licht präsentiert und in St. Gallen der erste Fussballklub auf europäischem Festland gegründet. Turbulent ist auch das Leben des Honighändlers und Heiratsvermittlers Jakob Rudolf Forster (1853–1926), gerade von Zürich zurück nach St. Gallen gezogen. Mit 26 Jahren sitzt der gebürtige Toggenburger schon zum dritten Mal in Untersuchungshaft, diesmal wegen Verdacht auf Betrug, Prellerei und Hehlerei. Seine Wohnung wird von Beamten auf den Kopf gestellt, derweil schreibt seine Mutter einen Brief an die «werten Herren Richter» und bittet um ein mildes Urteil für ihren «lieben und guten Sohn». Wenig später stirbt sie.
Kurz vor ihrem Tod hat sie noch versucht, «belastendes Material» aus der Unterkunft ihres Sohnes verschwinden zu lassen. Im Polizeirapport heisst es, man habe sie erwischt, wie sie «im Begriff war, Blutflecken auf Bettlaken zu entfernen» – Spuren des gemeinsamen Lebens mit seinem damaligen Geliebten Jakob Zehnder. Darum ging es den Behörden in Wahrheit: nicht um angeblich krumme Geschäfte, sondern um Forsters schwulen Lebensstil und seinen selbstbewussten Umgang damit.
Es wird nicht das letzte Mal sein, dass Forster in U-Haft sitzt. Dutzende Male wird er denunziert, verhaftet, eingewiesen, bestraft, verurteilt, begutachtet. Das Leben des wohl ersten bekannten Schwulenaktivisten der Schweiz ist auch eine Geschichte der Diskriminierung, Pathologisierung und Kriminalisierung Homosexueller. René Hornung und Philipp Hofstetter arbeiten das in ihrer Biografie über Forster lesenswert auf. Ihre historische Reportage basiert auf Forsters 180-seitiger Autobiografie, Polizei- und Prozessakten, psychiatrischen Gutachten sowie Zeitungsmeldungen, Broschüren und Flugblättern aus den Jahren vor 1900.
Ärger mit ganz oben
Das Buch ist aber weit mehr als nur eine Beschreibung der damaligen Zu- und Missstände im Rechtswesen. Es zeichnet auch das Porträt einer schillernden, ideenreichen und lebensfreudigen Figur. Kontextualisiert wird das mit Ausflügen in die Geschichte der administrativen Versorgung, der Pathologisierung der Sexualität, dem Niederlassungsrecht oder der mann-männlichen Prostitution im alten Zürich.
In den Akten als «überaus exaltiert» bezeichnet, hat Forster wohl einfach das bürgerliche Schema gesprengt, angefangen mit seiner offen gelebten Zuneigung für Männer. Forster führte seit dem jungen Erwachsenenalter minutiös Buch über seine vielen Bekanntschaften. Bei der Hausdurchsuchung 1879 finden die Beamten auch ein Heft mit dem Titel «Meine Geliebten». Es löst eine umfangreiche Untersuchung wegen «strafbaren Sexualverhaltens» aus.
Mehr noch als von seinem Privatleben sind die Behörden aber von Forsters politischem Kampf für die schwule Liebe brüskiert. Sogar Bundesbern schaltet sich irgendwann ein, weil «das lästige Individuum» keine Ruhe geben will. Mit 33 wird Forster administrativ versorgt, später will man ihn sogar nach Argentinien abschieben. Als 1889 seine Autobiografie im Eigenverlag erscheint, hat er insgesamt vier Jahre Gefängnis, Arbeitserziehung, psychiatrische Begutachtung und allerhand weitere Dramen hinter sich. Von all den Repressalien hat er sich aber nie abschrecken lassen. Je länger er verfolgt wurde, desto mehr wurde Forster zum Aktivisten. Unermüdlich kämpfte er für die «Sache der Urninge».
Balsam für sein Gemüt
Von der Urning-Theorie und dem Konzept des Uranismus hört Forster erstmals 1877 in Friedrichshafen. Wenig später trifft er in Stuttgart deren Erfinder, den Juristen und Gelehrten Karl Heinrich Ulrichs. Er gilt als Begründer der modernen Schwulenbewegung und wird zu Forsters Lehrmeister. Laut Ulrichs existiert nebst Mann und Frau noch eine dritte Geschlechtskategorie: der Mann mit einer weiblichen Seele, der sogenannte Urning, der sich zu seinesgleichen hingezogen fühlt. Ulrichs erklärt die gleichgeschlechtliche Liebe biologisch und will sie damit legitimieren. Seine Theorie hat den öffentlichen Diskurs über Homosexualität geöffnet und ging später in den modernen Sexualwissenschaften auf.
Und Forster? Er hat nun endlich Worte für das, was er schon seit seiner Jugend im Toggenburg fühlte, wo sie ihn noch mit «Fräulein Forster» zäukelten: Es gibt ein «Angeborensein dieser unwiderstehlichen Neigung». In seiner Autobiografie schreibt er über den ersten Kontakt mit dem Uranismus 1877: «Wie Balsam wirkte diese Schrift auf mein betrübtes Gemüt, und nur derselben habe ich es zu verdanken, dass ich jenem nicht anheimfiel, dem so viele meiner Genossen schon verfallen: dem Selbstmord!»
Es ist ein Moment der Erweckung für den damals 24-jährigen Mann, der sich fortan überall stolz als Urning präsentiert – trotz aller Repression. Es ist eine der bemerkenswertesten der vielen Facetten Forsters, und die Autoren arbeiten sie immer wieder eindrücklich heraus. Ihre Biografie ist eine späte Würdigung eines frühen Vorbilds. Der Protagonist selbst hätte wohl seine helle Freude daran gehabt.