Bangladesch: «Wir werden gerade zum zweiten Mal unabhängig»

Nr. 34 –

Nusrat Tabassum hat den studentischen Protest koordiniert, der in Bangladesch zum Sturz des langjährigen Regimes geführt hat. Sie erzählt von aufrührerischen Wochen, ihrer Verhaftung und der Hoffnung auf Demokratie.

WOZ: Frau Tabassum, Sie sind gerade im Studierendenwohnheim Ihrer Universität in Dhaka. Wie ist die Stimmung in der Hauptstadt? Merkt man noch etwas davon, dass vor rund zwei Wochen ein langjähriges Regime gestürzt wurde, oder ist bereits wieder der normale Alltag eingekehrt?

Nusrat Tabassum: So wie früher wird es nie wieder sein, denn in den letzten sechzehn Jahren lebten wir in Bangladesch unter einer äusserst autokratischen Regierung. Dieser Zustand war also gar nie normal. Wir versuchen jetzt erst, Normalität herzustellen.

Und wie ist die Lage ganz konkret? Kurz nachdem die Premierministerin Scheich Hasina am 5. August das Land verlassen hatte, berichteten Medien und NGOs von chaotischen Zuständen sowie von pogromartigen Übergriffen auf Minderheiten.

In den ersten Tagen nach dem Sturz des Regimes kam es zu einigen solchen Überfällen. Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Leute aus unserer Bewegung haben die Verantwortung für viele Orte in unserem Land übernommen, die gefährdet waren. Sie schützten Minderheitengebiete und religiöse Stätten oder regelten den Verkehr. Ich will auf keinen Fall Übergriffe und Gewalt rechtfertigen, aber ich glaube, in solchen postrevolutionären Phasen ist ein Land verletzlich, und es gibt Leute, die das böswillig ausnutzen.

Die Anführerin

Nusrat Tabassum (23) ist eine der Hauptkoordinator:innen des Studierendenprotests in Bangladesch. Sie studiert Politikwissenschaft an der Universität Dhaka. Für Politik und soziale Gerechtigkeit interessiert sie sich schon lange, das erste Mal selbst aktiv wurde sie 2018. Damals protestierten, ausgehend von der Hauptstadt Dhaka, wo zwei Schüler von einem Bus überfahren worden waren, Menschen in verschiedenen Städten gegen die mangelnde Regulierung des Verkehrs. Zu dieser Zeit engagierte sich Tabassum auch in ihrer Nachbarschaft für die Rechte von Frauen und Kindern. Als Studentin schloss sie sich der demokratischen Studierendenorganisation an.

 

Nusrat Tabassum an einer Demonstration

Sie sagen «postrevolutionär», andere sprechen von einer zweiten Unabhängigkeit Bangladeschs, nach der Ablösung von Pakistan 1971. War das eine so tiefgreifende Veränderung, die sich da abspielte?

Ich finde, es ist gerechtfertigt, das so zu nennen, ja. Scheich Hasina hat unser Land regiert, als ob es ihr Eigentum wäre. Sie hat unsere Privatsphäre, unser Wahlsystem, unsere Bürgerrechte zerstört, sie zerstörte unseren wirtschaftlichen Ruf, unser Rechtssystem, unser Sicherheitssystem. Gleichzeitig verantwortet Hasina den Tod so vieler Menschen, allein im vergangenen Juli waren es Hunderte. Deshalb bedeutet ihr Sturz so etwas wie unsere zweite Unabhängigkeitserklärung. Der Kampf um Unabhängigkeit von 1971 war die grösste Inspiration für unsere Bewegung. Der Grund dafür, dass die Menschen in Bangladesch, damals noch Ostpakistan, ihre Unabhängigkeit anstrebten, war die Tatsache, dass sie diskriminiert wurden. Auch in unserer Bewegung geht es genau darum.

Ist es nicht ironisch, dass der Vater von Scheich Hasina, Scheich Mujibur Rahman, das Land einst in die Unabhängigkeit führte?

Absolut. Ich würde es aber eher das Traurigste an dieser Situation nennen.

Begonnen hatten die Proteste nun als eine Bewegung der Studierenden. Gab es einen bestimmten Moment, in dem sich breitere Gesellschaftsschichten anschlossen?

Das war Mitte Juli.

Der Moment, als Scheich Hasina die Protestierenden mit den «razakar», einer propakistanischen und folglich während des Unabhängigkeitskriegs feindlichen Miliz, in Verbindung brachte – und sie so implizit als Verräter beschimpfte?

Ja, und am 15. Juli gingen Hasinas Schläger von der Chhatra Liga [Anm. d. Red.: eine Studierendenorganisation, die Hasinas Partei Awami-Liga nahesteht] brutal auf uns los, schlugen auf uns ein. Nach diesem Tag wurde der Protest der studentischen Antidiskriminierungsbewegung zu einer Revolution für ein freies Land, wurde der Rücktritt von Hasina gefordert. Nach dem 15. Juli wurde die Bewegung zum Aufstand.

Es folgte eine Welle der Gewalt und Repression. Videos von Polizist:innen, die Leute verprügeln oder erschiessen, sorgten ebenfalls dafür, dass aus der Studierenden- eine Massenbewegung wurde. Ende Juli wurden Tausende Aktivist:innen willkürlich verhaftet – auch Sie gehörten dazu. Können Sie erzählen, was Ihnen dabei widerfahren ist?

Sie kamen frühmorgens um 5.10 Uhr. Ich würde es aber nicht Verhaftung nennen, sondern eine Entführung durch die Polizei. Sie hielten mich etwa fünf oder sechs Tage lang fest. Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, es war die traumatischste Zeit meines Lebens. Aber immerhin lebe ich; und ich bin frei. Es gibt so viele, die gestorben sind oder die Familienmitglieder verloren haben.

Wenige Tage nachdem Sie und andere führende Personen der Bewegung freikamen, war Scheich Hasina weg. Nun wird das Land, wie von den Protestierenden gefordert, übergangsweise von Nobelpreisträger Mohammed Yunus geleitet. Welches ist nun die Rolle Ihrer Bewegung?

Zwei studentische Koordinatoren, Nahid Islam und Asif Mahmud, sind als Berater im Komitee der Übergangsregierung vertreten. Unsere Bewegung wird aber in jedem Fall die Zukunft des Landes sein. Wir werden Druck aufsetzen, werden Fragen stellen. Wir werden jeden einzelnen Schritt derjenigen überwachen, die an der Macht sind. Keine Regierung soll je wieder die Möglichkeit haben, eine Autokratie in unserem Land zu errichten. Dafür werden wir sorgen.

Aber wie genau wollen Sie das schaffen? Die Übergangsregierung wird nicht auf unbegrenzte Zeit im Amt bleiben. Und nicht nur der bisher herrschenden Awami-Liga, auch der grössten Oppositionspartei wird Korruption vorgeworfen. Gibt es innerhalb Ihrer Bewegung Überlegungen, eine eigene Partei zu gründen?

Jetzt ist gerade nicht der Zeitpunkt, um eine politische Partei zu gründen. Wir müssen zuerst wichtige Reformen durchführen, etwa in den Bereichen der Sicherheit, des Rechts oder der Strafverfolgung. Aber in der Zukunft wird eine eigene politischen Partei sicher ein Thema sein. Vielleicht in ein paar Monaten oder in einem Jahr.

Welche Aufgabe haben Sie persönlich in der Bewegung, nun, da die Zeit der Mobilisierung vorbei ist?

Als eine der Hauptkoordinator:innen dieser Bewegung trage ich eine grosse Verantwortung, und es gibt so unglaublich viel zu tun: Wir müssen unser Land wiederaufbauen, unser System reformieren. Ich arbeite aktuell viel mit der Regierung, mit einem neu gegründeten Studierendenausschuss sowie mit anderen politischen Parteien zusammen.

Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?

Heute war ich beispielsweise an einer Sitzung bei Mohammed Yunus, bei der es um die Rechte von Frauen ging. Gemeinsam mit Mitgliedern der Übergangsregierung und anderen Frauen, die sich für die Sache einsetzen, sprachen wir über die Gesundheitssituation von Frauen und ihren Zugang zum Bildungssystem. Ich vertrat dabei die Studierenden.

Medien berichteten vielfach über die wichtige Rolle, die den Frauen in dieser Bewegung zukam. Stimmt es, dass sich noch nie zuvor so viele Frauen in einer Protestbewegung engagierten?

Nun, es stimmt so halb. Wenn man weiter in die Vergangenheit schaut, in die Zeit der Unabhängigkeit von 1971, dann gab es damals sehr viele weibliche Freiheitskämpferinnen. Seither beteiligten sich auch immer wieder Frauen an Protesten – aber es stimmt, dass ihre Bedeutung bei der aktuellen Bewegung sehr gross ist. Fast die Hälfte der Aktivist:innen sind Frauen. Sie werden von Tag zu Tag politisch bewusster und selbstständiger.

Wie hoffnungsvoll sind Sie, wenn Sie sich die Zukunft Bangladeschs vorstellen?

Im Moment bin ich sehr hoffnungsvoll. In der Vergangenheit hatte die Bevölkerung meines Landes nie die Möglichkeit, Demokratie wirklich kennenzulernen, sie wirklich zu praktizieren. Die Menschen hatten schlicht nie die Gelegenheit dazu. Ich glaube daran, dass wir das System so reformieren können, dass mein Volk ermutigt wird. Die Menschen werden ihre Stimme erheben, sie werden ihre Fragen stellen. Unser Volk wird dafür sorgen, dass sich das System ändert.

Vom Studierenden- zum Massenprotest: So kam es zum Umsturz

Als im Juni dieses Jahres Studierende in Bangladesch gegen die Wiedereinführung einer Quotenregelung für Beamtenstellen auf die Strasse gingen, rechnete niemand damit, dass zwei Monate später die langjährige Herrscherin Scheich Hasina das Land fluchtartig verlassen würde. Die «Zeit» hatte in einer Analyse zu den Wahlen im Januar dieses Jahres noch geschrieben: «Der Tod ist für Scheich Hasina der einzig denkbare Grund, wieso sie irgendwann einmal nicht mehr an der Spitze Bangladeschs stehen könnte.»

Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Entscheidung des obersten Gerichts von Bangladesch, die Wiedereinführung einer Quote für die Vergabe von Stellen im öffentlichen Dienst zu erlauben. Dreissig Prozent der äusserst begehrten Arbeitsplätze sollten für die Nachkommen von Kämpfer:innen im Unabhängigkeitskrieg von 1971 reserviert sein. Die Protestierenden kritisierten, dass die Regelung einer kleinen Gruppe von Regierungstreuen zugutekomme. Ebendiese Quote war aufgrund von Studierendenprotesten im Jahr 2018 bereits einmal abgeschafft worden.

Ab Mitte Juli schlossen sich auch Gewerkschaften, Oppositionsparteien und weitere Gruppen den Protesten an, neue Forderungen wurden formuliert. Schliesslich ertönte der Ruf nach dem Rücktritt der «Diktatorin», wie Scheich Hasina mittlerweile genannt wurde. Hasina, die bereits von 1996 bis 2001 Premierministerin war, regierte das Land durchgehend seit 2009. Ihre Amtszeit war geprägt von wirtschaftlichem Wachstum, aber auch von der eisernen Härte, mit der sie regierte.

Wie etwa Human Rights Watch dokumentierte, kam es unter Hasina zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, darunter aussergerichtliche Tötungen, Folter und das Verschwindenlassen Hunderter Menschen. Am 8. August, drei Tage nach Hasinas Flucht, übernahm der 84-jährige Wirtschaftswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger Mohammed Yunus die Leitung der Übergangsregierung. Er versprach, in der nahen Zukunft freie Wahlen abzuhalten und sich um den Schutz von Minderheiten und Geflüchteten zu kümmern.