Textilindustrie in Bangladesch: «Die Arbeiter:innen verdienen ein würdiges Leben»
Seit Ende Oktober protestieren Beschäftigte in Bangladesch für einen höheren Mindestlohn. Jetzt machte die Regierung erste Zugeständnisse. Gewerkschaftsführerin Nazma Akter ist noch nicht zufrieden.
Drinnen im Gebäude in der Hauptstadt Dhaka tagt der Mindestlohnausschuss. Draussen steht eine Menschenmenge, die mit Schildern ihre Forderungen unterstreicht. «23 000 Taka Mindestlohn jetzt!», steht auf einem zu lesen. Zu der Protestaktion ist auch Nazma Akter gekommen – ein prominentes Gesicht unter den Textilarbeiter:innen von Bangladesch. Bereits mit elf Jahren musste Akter Kinderarbeit leisten. Sie begann, sich insbesondere für die Rechte der Frauen einzusetzen, die in der Textilindustrie sechzig Prozent der Beschäftigten ausmachen. Heute ist sie die Vorsitzende der Gewerkschaft Sommilito Garment Sramik Federation, die 70 000 Frauen organisiert. «Die Arbeiter:innen verdienen einen fairen Lohn, um ein würdiges Leben zu führen», sagt die 48-Jährige.
Im Gedenken der Toten
Die Protestaktion für bessere Löhne ist längst nicht die erste. Seit dem 23. Oktober tragen die Arbeiter:innen ihre Forderung auf die Strasse. Bangladesch ist ein wichtiger Kleiderlieferant für die Fast-Fashion-Industrie – und hat einen der niedrigsten Löhne für Textilarbeiter:innen weltweit. Seit 2019 lag dieser bei 8300 Taka pro Monat (umgerechnet 68 Franken) und war Expert:innen zufolge schon damals zu niedrig angesetzt worden. Die gewerkschaftliche Forderung nach einer Verdreifachung auf 23 000 Taka (187 Franken) wurde im Sommer vom Bangladesh Institute for Labor Studies vorgeschlagen.
Als sich im Oktober das Gerücht verbreitete, der neue Mindestlohn sei auf 10 400 Taka (85 Franken) festgesetzt worden, brachen Proteste los. Zuerst fanden sie in Gazipur statt, einem Zentrum der Textilindustrie. Bald griffen sie auf weitere Produktionsstandorte wie Ashulia oder Sabhar über. In der Stadt Sabhar stürzte vor zehn Jahren die Rana-Plaza-Textilfabrik ein, mehr als tausend Menschen kamen dabei ums Leben.
Die Proteste für einen höheren Lohn verliefen nicht überall friedlich. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften, Steine flogen, Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt. Zwei Arbeiter kamen ums Leben. Um die Kontrolle zurückzugewinnen, schlossen 500 Firmen den Betrieb. Nazma Akter gedenkt an der Protestveranstaltung vom Dienstag dieser Woche der beiden Toten: «Wir fordern die Bestrafung der Mörder von Rasel und Imran – und Gerechtigkeit für die Hunderten von verletzten Arbeiter:innen.»
Unterstützung erhielten die Protestierenden von Amnesty International oder der europäischen Clean Clothes Campaign. Grosse Marken wie Gap, Levi Strauss oder Patagonia wandten sich Mitte Oktober in einem Brief an Regierungschefin Scheich Hasina mit dem Wunsch nach einem «erfolgreichen Abschluss» der Lohnverhandlungen. Weitere, darunter Tchibo, H&M oder C&A, sprachen sich ebenfalls für einen Mindestlohn aus, der «zur Deckung der Lebenshaltungskosten der Beschäftigten und ihrer Familien erforderlich ist».
Kein akzeptables Ergebnis
Mit jährlichen Exporten im Wert von rund 50 Milliarden Franken machen Textilien 85 Prozent aller Ausfuhren Bangladeschs aus. In der Vergangenheit waren sie der Motor für den Aufschwung des südasiatischen Landes, das laut Uno-Prognosen ab 2026 nicht mehr zur Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder gehören soll. Doch derzeit ist die wirtschaftliche Lage angespannt, der Unmut in der Bevölkerung wächst. «Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen», bestätigt der aus Bangladesch stammende Ali Riaz, Politologe an der Illinois State University. Besonders betroffen sind Geringverdienende wie jene aus der Bekleidungsindustrie.
Riaz sieht im Anstieg der Inflation nicht nur eine Folge der Pandemie und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Eine weitere Ursache sei, dass Bangladeschs Regierung hohe Summen in Infrastrukturprojekte investiert habe, deren Kosten dann weit überschritten wurden. Die Devisenreserven des Landes schrumpften unterdessen auf gefährlich niedrige 27 Milliarden US-Dollar. Um die angeschlagene Wirtschaft zu stützen, schnürte der Internationale Währungsfonds Anfang des Jahres ein Paket über umgerechnet vier Milliarden Franken für Bangladesch.
Nach den Verhandlungen zwischen Firmenchefs und Beschäftigten vermeldete Arbeitsministerin Monnujan Sufian von der regierenden Awami-Liga am Dienstag den neuen Mindestlohn: 12 500 Taka (100 Franken). Vorgesehen ist auch eine jährliche Erhöhung um fünf Prozent. Der Betrag liegt über dem Vorschlag der Firmen, aber unter den Erwartungen von Gewerkschafter:innen. Erneut kam es deswegen zu Protesten. Am Mittwoch wurde die junge Näherin Anzuara Chatun getötet – mutmasslich durch Sicherheitskräfte. Der Mord überschattete die Lohnerhöhung.
Als «überhaupt nicht zufriedenstellend» bezeichnet Gewerkschaftsführerin Akter auf dem Kurznachrichtendienst X den neuen Mindestlohn: «Besser würde man verhandeln, anstatt Polizei und Schlägertrupps auf die Arbeiter:innen loszulassen.» Für den Freitag sind weitere Kundgebungen vorgesehen.
Auf den Strassen demonstrieren derzeit nicht nur die Textilarbeiter:innen, sondern auch die Anhänger:innen der konservativen Bangladesh Nationalist Party (BNP) und der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami. Sie werfen der herrschenden Awami-Liga Wahlbetrug, Korruption und Menschenrechtsverletzungen vor. Regierungschefin Scheich Hasina stehen Ende Januar schwierige Wahlen bevor – falls die Opposition diese angesichts von Einschüchterungsversuchen nicht wie das letzte Mal boykottiert.