Indonesische Revolution: Die ehemalige Kolonie und die Spur der Gewalt

Nr. 40 –

Der Historiker David Van Reybrouck hat eine dichte und anschauliche Geschichte des blutigen indonesischen Unabhängigkeitskampfs geschrieben. Etwas mehr Zurückhaltung hätte dem Buch aber gutgetan.

Unabhängigkeitskämpfer:innen auf Java, April 1949
Schworen sich, ihre Haare wachsen zu lassen, bis die Kolonialmacht Niederlande vertrieben ist: Unabhängigkeitskämpfer:innen auf Java, April 1949. Foto: Nationaal Archief, Collectie Spaarnestad

Wieso interessiert sich eigentlich niemand für Indonesien? Mit dieser Frage eröffnet der belgische Historiker David Van Reybrouck, Autor des preisgekrönten Sachbuchs «Kongo. Eine Geschichte», sein neues Werk «Revolusi» zum indonesischen Unabhängigkeitskampf. Ja, wieso eigentlich? Indonesien – das stellt der Autor gleich zu Beginn fest – hat die grösste muslimische Bevölkerung der Welt, ist das Land mit der viertgrössten Bevölkerung und eine rasant wachsende Wirtschaftsmacht.

Auch in der Schweiz interessierte Indonesien in den vergangenen Jahren nur im Kontext von Freihandelsabkommen oder des Antisemitismusskandals an der Kunstausstellung Documenta. Zu Unrecht, würde Van Reybrouck erwidern, denn die indonesische Revolution sei ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung gewesen. Einerseits waren die Kolonisierung und die Dekolonisierung Indonesiens transnationale Prozesse, an denen neben der niederländischen Kolonialmacht auch Frankreich, Grossbritannien oder die USA beteiligt waren. Andererseits war Indonesien das erste Land, das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 seine Unabhängigkeit erklärte, wodurch es Dekolonisierungswellen in Asien und Afrika inspirierte.

Die Klassen des Postschiffs

Auf über 700 Seiten rekonstruiert Van Reybrouck die Geschichte Indonesiens der letzten 400 Jahre. In Forschungskreisen ist der Inhalt nicht unbedingt neu, wie ein Blick auf das umfangreiche Literaturverzeichnis verrät. Allerdings legt kein Buch zur Thematik den indonesischen Unabhängigkeitskampf derart anschaulich für ein breiteres Publikum dar.

Die ersten vier Kapitel widmen sich der gewaltvollen Eroberung des malaiischen Archipels von der Ära der Niederländischen Ostindien-Kompanie bis ins 20. Jahrhundert, als die europäische Herrschaft unter der niederländischen Krone konsolidiert wurde. Die wachsende Ungleichheit in der niederländischen Kolonie fasst Van Reybrouck mit der Metapher des Postschiffs zusammen, das während der Kolonialzeit die Bewohner:innen Niederländisch-Ostindiens in drei Klassen zwischen den Inseln des Archipels hin- und hertransportierte: Während sich auf dem ersten Deck die europäischen und indoeuropäischen Eliten (also solche sowohl europäischer als auch indigener Herkunft) auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung eines hedonistischen Lebensstils erfreuten, versammelte sich auf Deck zwei die indonesische, arabische und chinesische Mittelschicht. Das dritte Deck – vorwiegend Zwangsarbeiter:innen oder indigene Soldaten – bildete die unterste Schicht der kolonialen Gesellschaftsordnung und zugleich auch deren Mehrheit. Die Revolution, folgert der Autor, entstand nicht aus einem historischen Vakuum, sondern folgte als Reaktion auf fast 400 Jahre koloniale Eroberung und rassistische Ungleichheit. Damit folgt er Bestrebungen der jüngeren Geschichtsschreibung, die weitreichenden Folgen des Kolonialismus im postkolonialen Zeitalter offenzulegen.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Van Reybrouck der Revolution selbst zu. Der indonesische Unabhängigkeitskampf gewann an Fahrt, als Japan 1942 im Zuge des Pazifikkriegs Südostasien besetzte. Die Schilderung der Gewalt unter der japanischen Besatzung ist harter Stoff: Massenvergewaltigungen, Willkürmorde und die unmenschlichen Zustände in den japanischen Internierungscamps werden minutiös beschrieben.

Grausam ging es auch nach Kriegsende weiter. Dabei zeichnet der Autor ein differenziertes Bild der Gewaltspirale, die aus der fehlenden Bereitschaft der Niederlande erwuchs, nach der Unabhängigkeitserklärung 1945 aus Indonesien abzuziehen. Einerseits zeichnet er die wachsende Militanz unter indonesischen Jugendlichen nach – diese Ereignisse werden heute unter dem Stichwort «bersiap» (Indonesisch für «Mach dich bereit» oder «Sei vorbereitet») in den Niederlanden öffentlich kontrovers diskutiert. Andererseits findet Van Reybrouck auch für das Vorgehen des niederländischen Militärs deutliche Worte: Die euphemistisch als «Polizeiaktionen» bezeichneten Versuche der Niederlande, ihre ehemaligen Besitzungen zurückzuerobern, hätten sich in «extremer Gewalt» ausgedrückt.

Die indonesische Unabhängigkeit fand auch auf internationalen Bühnen Beachtung. Ausführlich schildert Van Reybrouck die diplomatischen Verhandlungen zwischen den indonesischen Nationalist:innen, den Niederlanden, den USA und Grossbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch nachdem die Niederlande die indonesische Unabhängigkeit 1949 anerkannt hatten, wirkte die Revolution global weiter. Die unabhängige indonesische Regierung, so argumentiert Van Reybrouck, habe mit der asiatisch-afrikanischen Konferenz in Bandung 1955 den Grundstein für die Dekolonisierung Dutzender Länder in Asien und Afrika gelegt und sollte das Verhältnis des Westens zur «Dritten Welt» nachhaltig verändern.

Mit dieser These lehnt sich der Autor allerdings etwas aus dem Fenster: Die aufgeführte Quellenlage ist dünn, und mit der Behauptung, Indonesien habe in der «Dritte-Welt-Bewegung» eine führende Rolle eingenommen, reproduziert er unwillkürlich ein nationenzentriertes Narrativ, das er mit seinem Buch zu überwinden behauptet.

Erzählerisch besticht «Revolusi» insbesondere mit den Zeitzeug:innenberichten, die die historischen Zusammenhänge illustrieren. Insgesamt interviewte Van Reybrouck über 180 Veteraninnen, Zivilisten oder Künstler:innen aus den Niederlanden, Indonesien und Japan. Selbst mit nepalesischen Gurkhas, die während des Zweiten Weltkriegs auf britischer Seite in Indonesien gegen die japanische Besatzung kämpften, oder mit deutschen Veteranen, die gegen Ende des Pazifikkriegs auf Java stationiert waren, hat der Historiker gesprochen.

Dabei neigt der Autor allerdings auch zur heroisierenden Selbstinszenierung. So erzählt Van Reybrouck davon, wie er vom Sultan von Tidore in dessen Palast zum Tee eingeladen wurde. Die exotisierende Darstellung des Treffens könnte glatt einem Reisebericht aus der Kolonialzeit entstammen. Ähnlich wenig reflektiert er seine Privilegien als weisser Mann, wenn er schildert, wie er Zeitzeug:innen auf Tinder ausfindig gemacht hat.

Die Behauptung Van Reybroucks, mit seinem Buch wichtige Lücken in der kollektiven Erinnerung an die indonesische Unabhängigkeit zu füllen, marginalisiert zudem indirekt die Bemühungen niederländischer, indoeuropäischer und indonesischer Historiker:innen und Aktivist:innen, die Brutalität der Kolonialherrschaft ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Etwas mehr Bescheidenheit hätte dem Autor auch in dieser Hinsicht gutgetan.

Und die Rolle der Schweiz?

Auch Schweizer:innen waren, so zeigen jüngste Forschungsergebnisse, stark in die gewaltsame Kolonisierung Amerikas, Afrikas und Asiens – inklusive Indonesiens – involviert. Bei Van Reybrouck kommt das nicht vor. Ein Hinweis auf die Rolle deutscher, belgischer, Schweizer oder französischer Akteure im niederländischen Imperialismus hätte das Argument, dass indonesische Geschichte jenseits der Grenzen Indonesiens und der Niederlande betrachtet werden muss, deutlich gestärkt.

Dennoch hat «Revolusi» auch in der Schweiz Beachtung verdient. David Van Reybrouck zeigt unbeschönigt, dass Kolonialismus ein gewaltvolles Unrechtssystem war, das Millionen Menschen das Leben kostete und die politische Stabilität, das nationale Selbstbewusstsein und nicht zuletzt die Umwelt in ehemaligen Kolonien nachhaltig zerstörte. Im besten Fall trägt «Revolusi» auch hier zur Debatte über die globale Verantwortung bei, der sich europäische Staaten in einer postkolonialen Welt stellen müssen.

Buchcover von «Revolusi»

David van Reybrouck: «Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt». Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 751 Seiten. 46 Franken.