Irreguläre Migration in die USA: Grenzwächter, die nie schlafen

Nr. 34 –

Mexiko und die USA sind nicht nur durch die «Trump-Mauer», sondern auch durch eine «virtual wall» getrennt. Deren Ausbau treiben auch die Demokrat:innen voran.

Notrufstation in der Sonora-Wüste von Arizona
Notrufstation in der Sonora-Wüste von Arizona. Rufen Migrant:innen hier um Hilfe, kommt die Grenzpolizei.

Die Temperaturen liegen schon jetzt bei über 30 Grad Celsius – dabei ist es erst 4 Uhr, als sich vier Freiwillige in ihrem Hauptquartier in Ajo treffen. Die Kleinstadt liegt im Bundesstaat Arizona im Südwesten der USA, in der Sonora-Wüste. Es ist die letzte Stadt vor der Grenze zu Mexiko. Die Freiwilligen nennen sich die «Ajo Samaritans»: Sie bringen Wasserkanister in das Wüstengebiet, um Migrant:innen vor dem Verdursten zu retten. Ihr Ziel an diesem Mittwochmorgen im Juli sind die Gebiete südlich der Growler Mountains.

Die Growler Mountains gelten seit einigen Jahren als besonders gefährliches Gebiet. Auf einer Karte im Hauptquartier der Ajo Samaritans, auf der die Orte, an denen tote Migrant:innen gefunden wurden, verzeichnet sind, häufen sich die roten Punkte südlich der Bergkette. Scott Warren, ein Lehrer, der in der Zeit der Präsidentschaft von Donald Trump wegen der Unterstützung von Migrant:innen vor Gericht stand (und freigesprochen wurde), klärt noch einmal über die Gefahren für die Helfer:innen auf: Hitzeschlag, Grenzschutzmilizen, Gerichtsprozesse. Dann steigen die vier Samaritans in zwei SUVs. Nach rund einer Stunde Fahrt geht es zu Fuss weiter in die Wüste.

Dass immer mehr Migrant:innen die längeren Routen über die Berge statt durch die Täler wählen, liege daran, dass in Letzteren zuletzt sechs neue Überwachungstürme installiert worden seien, sagt Sam Chambers. Der Geograf sitzt im ersten Stock eines Gebäudes der University of Arizona in Tucson. Er will aber nicht im Namen seines Arbeitgebers sprechen, sondern als unabhängiger Wissenschaftler. Zu politisch sei das Thema, sagt er.

Chambers, der früher als Förster Open Data genutzt hatte, um herauszufinden, in welchen Waldgebieten zu welcher Zeit das Zeckenrisiko am höchsten ist, erforscht heute das Sterben der Migrant:innen beim Grenzübertritt. «Meine Arbeit beschäftigt sich zum einen mit der statistischen Analyse, ob und wie Mauern und Checkpoints die Migrationsrouten verändern», sagt er. «Und zum anderen damit, wie sich diese Veränderungen auf das Todesrisiko für die Migrant:innen auswirken.» Der Geograf stützt sich dabei auf die Arbeit der Gerichtsmediziner:innen des Pima County: Sie erfassen systematisch die Daten von entlang der US-mexikanischen Grenze gestorbenen Migrant:innen und veröffentlichen sie.

Chambers’ Schlussfolgerung ist eindeutig: Je intensiver die Grenzüberwachung, desto mehr Menschen sterben beim Versuch, in die USA zu gelangen. Das wissen auch die Behörden. Die Regierung von Präsident Bill Clinton etablierte in den 1990er Jahren die Politik der «Prävention durch Abschreckung». Die Migrationsbewegungen sollten in entlegenere Regionen umgeleitet werden – auch in die Wüste. Die Grenzpolizei erklärte die Operation für erfolgreich. Und stellte ebenfalls fest, dass es mehr Tote gegeben habe.

Über 450 Überwachungstürme

Die 1990er Jahre markieren nicht nur den Beginn der Abschreckungspolitik, sondern auch der technologischen Aufrüstung im Bereich der Grenzüberwachung. Unter Präsident Clinton wurde 1994 eine Datenbank mit Fingerabdrücken zur Identifikation irregulärer Migrant:innen eingeführt. 1998 startete das Isis-Programm zur permanenten Überwachung der Südgrenze mit Sensoren, Videoüberwachung und computergestützter Bilderkennung. 2006 erhielt Boeing im Rahmen der «Secure Border Initiative» den mit 67 Millionen Dollar dotierten Auftrag, auf 45 Kilometern der Grenze zwischen Arizona und Mexiko neun Hightech-Überwachungstürme zu installieren, ausgestattet mit Radarsystemen, hochauflösenden Kameras und drahtloser Technologie.

Und seit dem Aufkommen von künstlicher Intelligenz (KI) fliesst auch diese in die Grenzsicherung ein. Das Heimatschutzministerium, dem der Grenzschutz unterstellt ist, möchte diesbezüglich zur Vorreiterbehörde werden. Es hat rund fünfzig KI-Expert:innen eingestellt.

Stolz präsentierte der Grenzschutz kürzlich an einer Konferenz, wie die Bedeutung von KI für seine Arbeit in den letzten Jahren zugenommen habe. 2013: Zum ersten Mal wird KI eingesetzt, um das Erstellen von Modellen zur «Zielobjekterkennung» zu unterstützen. 2018: KI kommt zum ersten Mal bei autonomen Überwachungstürmen an der Grenze zum Einsatz. 2021: KI ist jetzt allein dafür verantwortlich, «Zielobjekte» in Videos zu erkennen. Und ab 2024 soll nun sogenannte generative KI zum Einsatz kommen, wobei unklar bleibt, was genau damit gemeint ist. Die Grenzschutzbehörde hat auf entsprechende Anfragen nicht reagiert.

Öffentlich kommuniziert sie: In Zukunft sollen Autos und Koffer gescannt und mittels KI beurteilt, Gesichter und Nummernschilder mithilfe von KI identifiziert und mehr und mehr Bilder von zunehmend autonomen Überwachungskameras und -drohnen mittels KI analysiert werden. Seit 2005 hat die Behörde mehr als eine Milliarde Dollar in den Ausbau ihrer Überwachungstürme an der Grenze zu Mexiko investiert. Inzwischen stehen dort über 450 dieser Konstruktionen.

Präsident Donald Trump unterzeichnete 2020 etwa einen Vertrag mit dem Technologieunternehmen Anduril über die Lieferung von rund 200 neuen Türmen. Gegründet wurde Anduril von Palmer Luckey, der einst im Silicon Valley Virtual-Reality-Brillen für die Firma Oculus Rift entworfen hatte. Luckey tritt mit Vokuhila-Frisur und Hawaiihemd auf, seine Firma entwickelt im Auftrag des US-Militärs Quadcopter, autonome Kampfjets – und eben Überwachungstürme. Zuletzt baute Präsident Joe Biden die Zusammenarbeit mit Anduril in diesem Bereich aus.

Denn bei der «virtual wall», also der virtuellen Grenzmauer, sind auch die Demokrat:innen mit an Bord. Dave Maass, Investigativmitarbeiter der NGO Electronic Frontier Foundation, sagt: «Die Demokrat:innen setzen im Gegensatz zu den Republikaner:innen lieber auf Überwachung als auf eine Mauer.» Das sei etwas subtiler.

Die neusten Ausführungen dieser Türme beobachten jede Bewegung in einem Umkreis von 2,8 Kilometern. Entdecken sie ein Objekt, das sich bewegt, sendet das System Aufnahmen davon an eine:n Grenzbeamt:in. Diese:r überprüft auf dem Smartphone oder am Computer, ob das «Zielobjekt» relevant ist oder nicht: Ist es ein Mensch oder ein Tier? Eine Migrantin oder ein Anwohner? Die Grenzbehörden beschreiben die Türme als «Partner, der nie schläft, keine Kaffeepause braucht, nicht einmal blinzelt».

Letzte Würde

Um 9 Uhr kratzen die Temperaturen in der Sonora-Wüste bereits an der 40-Grad-Marke. Die Ajo Samaritans sind bei einem Notrufmasten der Grenzpolizei angekommen. Kleider, Wasserkanister und Kopfschmerztabletten liegen am Boden verstreut. Hier haben überlebende Migrant:innen Alarm geschlagen. Dass sie vom Grenzschutz abgeholt würden, wussten sie wohl nicht, vermuten die Aktivist:innen.

«Vier Menschen aus derselben Gruppe waren zuvor gestorben», sagt Warren. Ein anderer Helfer aus Ajo, Gene O’Meara, war dabei, als die Leichen gefunden wurden. «Zum Glück waren die Finger noch dran», sagt er später. Nur eine Woche dauert es in der von Geiern und Kojoten bevölkerten Wüste, bis von einer Leiche bloss noch Knochen übrig sind. «Anhand der Fingerabdrücke kann die Forensik die Leute einfach und günstig identifizieren», so O’Meara. Ihnen einen Namen zu geben, ist oft alles, was er noch für die Würde der Verstorbenen und für ihre Familien tun kann. «Das ist brutal», sagt er, «aber Alltag.» Seit 2014 haben die Vereinten Nationen mehr als 4200 Migrant:innen verzeichnet, die beim Grenzübertritt von Mexiko in die USA verschollen oder verstorben sind. Die Grenze gilt als die tödlichste Landgrenze der Welt.

Rund vier Stunden später sind die Helfer:innen wieder bei ihren SUVs angelangt. Sie haben mehrere Kanister Wasser und Nahrungsmittel an Notfallstationen in der Wüste deponiert. Den Rest des Tages werden sie trotz Kopfbedeckung mit Kopfschmerzen verbringen. Die Migrant:innen laufen bis zu zehn Tage lang durch die Wüste, bis sie ihr Zwischenziel, die Interstate 10, erreichen. «Vor ein paar Jahren mussten sie noch halb so weit gehen», sagt einer der Helfer. Doch dann errichtete die Grenzpolizei nördlich von Ajo einen weiteren Checkpoint an der einzigen Strasse in Richtung Norden.

Das sogenannte «borderland» gleiche immer mehr einem Kriegsgebiet, sagt Dave Maass von der Electronic Frontier Foundation. «Der technologische Ausbau ist Teil eines Wettrüstens zwischen dem Grenzschutz und den Kartellen.» Für die Migrant:innen wird der Grenzübertritt komplizierter – und dadurch teurer. Für die mexikanischen Kartelle, die als Schlepper und Menschenschmuggler ein Geschäft mit der Migration machen, steigen die Einnahmen.

«Wenn der Grenzschutz mit seiner Überwachungstechnologie alles sehen kann, wie kann dann überhaupt jemand sterben? Wie kommt es, dass sie nicht alle abfangen?», fragt Maass. In seiner jahrelangen Arbeit ist er zur Überzeugung gelangt: Dem Grenzschutz gehe es tatsächlich weder um den Schutz der Grenze noch um den der Menschen, sondern um den Selbsterhalt der Behörde. 2023 investierten die USA über fünf Milliarden Dollar in den Grenzschutz, so viel wie nie zuvor. Im selben Jahr erreichte ein anderer statistischer Wert einen neuen Rekord: die Anzahl der Migrant:innen, die die Südgrenze irregulär überquerten.