Europäische Migrationsabwehr: Mit schlaflosen Wächtern

Nr. 3 –

Drohnen, Überwachungstürme und Handydaten: Die EU und die Schweiz rüsten für die Migrationsabwehr technisch hoch – gegen aussen und nach innen. Das zeigt eine internationale Recherche.

Griechische Polizist:innen am Grenzzaun der griechisch-türkischen Grenze bei Feres
Mit ständig wachsendem Arsenal: Griechische Polizist:innen an der griechisch-türkischen Grenze bei Feres. Foto: Petros Giannakouris, Keystone

Der nordöstlichste Zipfel Griechenlands, der Regionalbezirk Evros, liegt eingebettet zwischen Bulgarien und der Türkei. Landwirtschaftsflächen und kleine Ortschaften säumen eine Autobahn, rote Schilder warnen vor dem Betreten verbotener Bereiche. In den Cafés sitzen Soldat:innen und Polizist:innen – die Region ist ein hoch militarisiertes Grenzgebiet. Auf einer Strecke von 192 Kilometern bildet der gleichnamige Fluss die EU-Aussengrenze zwischen Griechenland und der Türkei. Der Evros entspringt dem rauen bulgarischen Gebirge und schlängelt sich durch die wilde Landschaft, bevor er sich im Süden in die Ägäis ergiesst. Im Sommer ist es heiss und schwül, ein Paradies für Moskitos. Die Winter sind harsch.

An einem kalten Wintermorgen im Jahr 2022 bestiegen ein Dutzend Menschen ein Gummiboot, um den Evros zu überqueren. Ihr Ziel: Griechenland. Auf den ersten Blick wirkt der Fluss ruhig, doch seine Strömung ist stark. Trotz der Gefahr gelang es der Gruppe, das andere Ufer zu erreichen. Sie betraten EU-Boden und versteckten sich im dichten Ufergebüsch. Die Menschen ahnten nicht, dass sie bereits überwacht wurden, bevor sie die Türkei verlassen hatten. Gemäss griechischen Polizeiakten, die dieser Recherche zugrunde liegen, wurden sie kurz nach ihrer Ankunft durch griechische Beamte mithilfe präziser Standortdaten aus der regionalen Zentrale des «Automated Border Surveillance System» aufgespürt. Das Überwachungssystem erfasst auch Gebiete, die bis zu fünfzehn Kilometer tief auf türkischem Staatsgebiet liegen.

Europa setzt zunehmend auf hochentwickelte Technologien, um die Migrationsabwehr zu optimieren. Das wachsende Arsenal umfasst nicht nur Drohnen und Wärmebildkameras an den EU-Aussengrenzen, sondern auch Dialekterkennungssoftware, die Analyse persönlicher Handydaten und weitere Überwachungssysteme in der EU und assoziierten europäischen Staaten – darunter die Schweiz.

Dieses Überwachungsnetzwerk erstreckt sich vom Evros im Südosten bis zum Ärmelkanal im Nordwesten und integriert immer häufiger künstliche Intelligenz (KI). Das zeigt eine internationale Recherche, an der nebst der WOZ der deutsche «Tagesspiegel», die spanische «El País», die griechische Plattform «Solomon» und das US-Onlinemagazin «Inkstick» beteiligt waren. Das internationale Team führte über 100 Interviews in neun Ländern mit Behörden, Aktivist:innen, Asylsuchenden und Sicherheitskräften und wertete zahlreiche öffentliche und vertrauliche Dokumente aus.

Viel Geld, wenig Transparenz

Wo hochgerüstet wird, fliesst Geld: Der KI-Boom im Migrations- und Grenzmanagement erweist sich für Techfirmen als sehr lukrativ. So etwa für Anduril Industries, die US-Tech-Rüstungsfirma von Trump-Unterstützer Palmer Luckey. Deren KI-gestützte Überwachungstürme namens «Sentry» sind entlang der Südküste Grossbritanniens im Einsatz. Radar und Sensoren überwachen rund um die Uhr das umliegende Meer. Das britische Innenministerium lehnt Anfragen nach der Anzahl der Türme ab – aus Gründen der nationalen Sicherheit. Wie werden die Daten benutzt? Trainiert Anduril damit seine eigenen KI-Datenbanken? Auch darüber gibt es keine Auskunft.

Vom KI-Boom im europäischen Grenzmanagement profitieren nicht nur Techriesen, sondern auch Schweizer Firmen und Forschungseinrichtungen. So hat die Zürcher Decodio AG, wie der Rüstungsreport der WOZ vom Herbst 2024 zeigt, seit 2015 Überwachungslösungen im Wert von über 27 Millionen Franken in verschiedene europäische Länder exportiert, darunter auch Griechenland. Das Land spielt eine Schlüsselrolle in der europäischen Migrationsabwehr und gilt als Vorreiter beim Einsatz von KI und anderen Technologien. Bei einem Treffen europäischer Polizeieinheiten im Herbst 2024 in Warschau wurde Griechenland für seine Erfolge gelobt. Insider:innen zufolge basieren diese vor allem auf den eingesetzten «technischen Barrieren».

Am Evros nehmen diese Barrieren die Form eines fünf Meter hohen Stahlzauns an, der bereits einen grossen Teil der Grenze abdeckt und der mit EU-Finanzierung bald noch weiterwachsen soll. Er wird durch ein umfassendes Überwachungssystem ergänzt, das KI-gesteuerte Drohnen, unzählige Kameras und schnelle Eingreiftrupps der Grenzwache umfasst. Die Landschaft ist von Wachtürmen und Antennen übersät. Kamerafeeds werden direkt in Überwachungszentralen nahe den Grenzorten übertragen. Dort überwachen Beamt:innen zahlreiche Bildschirme, die jeden Winkel der Grenze abdecken – auch auf türkischem Gebiet. Registriert eine Drohne oder Kamera eine Bewegung, wird ein Alarm ausgelöst. Als «schlaflose Wächter» beschreibt ein ranghoher griechischer Beamter, der anonym bleiben will, das System.

Oft informieren die griechischen Beamt:innen ihre türkischen Kolleg:innen, teilen die Koordinaten. Regelmässig gäbe es gemeinsame Treffen, so Quellen aus beiden Ländern. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2024 haben türkische Behörden in der Provinz Edirne über 12 000 Migrant:innen daran gehindert, die Grenze überhaupt zu erreichen. Der Grundrechtsbeauftragte der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) äusserte diesbezüglich in einem Interview Bedenken. Auf Kosten der Effizienz bestünde mit diesem technologischen Vorgehen die Gefahr, dass Menschen von ihrem Recht auf einen Asylantrag abgehalten würden.

Als Schengen-Mitglied leistet die Schweiz jährliche Beiträge an Frontex. Vor zwei Jahren stimmte die Bevölkerung der Beteiligung am weiteren Ausbau der Agentur zu, wodurch die Zahlungen stetig steigen. Im Jahr 2024 beliefen sie sich auf fast 36,8 Millionen Franken, wie das Bundesamt für Zoll- und Grenzsicherheit (BAZG) auf Anfrage schreibt. Zudem stellt die Schweiz Personal für Frontex-Einsätze.

Schweiz durchleuchtet bald Handys

Die Technologisierung der Migrationsabwehr beschränkt sich nicht auf die Aussengrenzen, sondern greift auch innerhalb des Schengen-Raums: etwa durch das Sammeln und Auswerten persönlicher Handydaten von Asylsuchenden. Was mit diesen Daten letztlich geschieht, bleibt oft unklar. Auch in der Schweiz wird diese Praxis umgesetzt: Dank einer neuen Verordnung zum Asylgesetz dürfen Behörden ab dem 1. April dieses Jahres persönliche Daten von Smartphones und anderen elektronischen Geräten von Asylsuchenden auswerten.

Handys und Laptops können künftig vom Staatssekretariat für Migration (SEM) durchleuchtet und der Inhalt bis zu einem Jahr zwischengespeichert werden. Welche persönlichen Daten damit konkret gemeint sind, wird nicht definiert. Zu gross seien die Mengen, so der Bund. Sprich: potenziell alle Daten –Telefonnummern, Chats, Fotos, GPS-Daten. Auch Inhalte auf Social-Media-Profilen wie Instagram. «Es betrifft grundsätzlich alle auf einem Träger vorhandenen Daten», bestätigt das SEM auf Anfrage. Betroffene können sich kaum wehren: «Das Verhalten der betroffenen Person wird im Asylentscheid berücksichtigt», steht in den Erläuterungen zur Verordnung. Gemäss SEM werden die Geräte anfangs noch mittels «direkter Sichtung» durch eine Person ausgewertet. In einem zweiten Schritt soll dafür künftig eine Software eingesetzt werden.

Zweifelhaftes Vorbild Deutschland

Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nutzt bereits seit Jahren automatisierte Software. Das SEM bestätigt, dass es sich diesbezüglich mit dem BAMF ausgetauscht habe. Allerdings läuft das sogenannte Phone Scraping nicht immer nach den gesetzlichen Vorgaben. In manchen Fällen urteilten Gerichte, das Vorgehen sei rechtswidrig gewesen. Stephan Scheel, Professor für Politische Soziologie an der Leuphana-Universität Lüneburg, hat den Einsatz automatisierter Identifikationstechnologien beim BAMF untersucht. «Das Auslesen von Handydaten halte ich für besonders problematisch», so Scheel, «da es am invasivsten ist.»

Die Datenauswertung der deutschen Phone-Scraping-Software ist ausserdem fehleranfällig – im ersten Halbjahr 2023 lieferte das System in 73 Prozent der Fälle keine verwertbaren Ergebnisse. Zudem ist das Programm nicht mit älteren Mobiltelefonen kompatibel – und Handys mit mehreren Vorbesitzer:innen führen zu widersprüchlichen Ergebnissen. In Hintergrundgesprächen sagten einige Expert:innen, das Phone Scraping gehöre trotzdem zum deutschen Standardverfahren bei Asylanträgen. Dabei würde in nur rund drei Prozent aller Fälle die Identität von Asylsuchenden «widerlegt». Bis heute kostete das Programm die deutschen Steuerzahler:innen 22 Millionen Euro.

Der Blick nach Deutschland zeigt, wie problematisch der Einsatz von KI im Migrationsbereich oft ist. Abgesehen von der Aushöhlung von Grundrechten vermittelt er häufig nur eine Illusion von Effizienz. «Wir wissen, dass diese Technologie sehr teuer ist», sagt Hanne Beirens, Direktorin des Migration Policy Institute in Brüssel. Derzeit wird KI vor allem eingesetzt, um die Symptome von Migration zu bekämpfen – nicht deren Ursachen. «In diesem Sinne ist der breite Einsatz von KI und anderen Technologien auch kein kosteneffizienter Ansatz.»

Diese Recherche wurde durch die Förderung von Investigative Journalism for Europe Fund (IJ4EU), Journalismfund Europe und Netzwerk Recherche mitfinanziert.

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