Naher Osten: Iran: Die Mässigung des Regimes ist nur vorgetäuscht
Der neue iranische Präsident Massud Peseschkian kündigte eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen an. Mit der politischen Realität hat das wenig zu tun.
Was für eine Blamage: Hamas-Chefdiplomat Ismail Hanija war für die Zeremonie zur Vereidigung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian nach Teheran gereist. Am Dienstag vergangener Woche wurde er feierlich von Peseschkian und Staatsoberhaupt Ajatollah Chamenei empfangen. Wenige Stunden später war Hanija tot.
In sozialen Netzwerken jubeln Iraner:innen über das Attentat. Sie halten Hanija für einen Kriegstreiber, einen antifeministischen Terroristen, der für das Elend im Gazastreifen mitverantwortlich ist. Zwar kritisieren im Internet Exponent:innen der feministischen Bewegung auch die Menschenrechtsverletzungen, die die israelische Regierung aus ihrer Sicht begeht, aber ohne Unterstützung für die Hamas auszudrücken. Ismail Hanija war ein wichtiger Verbündeter des iranischen Regimes, das sorgt für besondere Häme: Die Machthaber seien wohl zu sehr damit beschäftigt, die eigenen Bürger:innen zu verfolgen, so der Tenor von Regimegegner:innen in den sozialen Medien. Die Lücken im Sicherheitssystem seien demnach auch ein Zeichen für das marode und korrupte System des Landes.
Die Wut auf die Islamische Republik ist ungebrochen. Obwohl Kritiker:innen die Todesstrafe droht, gehen sie weiterhin auf die Strasse. Auch im Juli und August protestierten sie in zahlreichen Städten gegen die herrschenden Mullahs. Am Aschura-Fest, den wichtigsten Feierlichkeiten im schiitischen Kalender, nahmen in der Grossstadt Karadsch die Frauen ohne den obligatorischen Hidschab teil. Videos vom mutigen Protest gegen die islamische Kleiderordnung verbreiteten sich viral. Und während Peseschkian vereidigt wurde, sassen im Evin-Gefängnis in Teheran Häftlinge im Hungerstreik und forderten die Abschaffung der Todesstrafe.
Ein Systemmitläufer
Der als moderat geltende Peseschkian setzte sich bei der Stichwahl am 5. Juli gegen drei Hardliner durch. Der frühere Gesundheitsminister war bis dahin im Ausland weitgehend ein Unbekannter; auch im Iran selbst war er politisch bisher nicht sonderlich aufgefallen. Die Machthaber liessen den Herzchirurgen aus taktischen Gründen als Kandidaten zu. Die Scheinwahlen – der ultrakonservative Wächterrat selektiert zuvor alle Kandidat:innen – sind ein Versuch, Legitimität herzustellen und nach innen sowie gegen aussen Mässigung zu signalisieren. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich fünfzig Prozent – überprüfen lassen sich die offiziellen Angaben allerdings nicht. Im Vorfeld hatten Oppositionspolitiker und Aktivistinnen zum Boykott aufgerufen.
Das Label «Reformer», das westliche Medien Massud Peseschkian zuschreiben, ist irreführend. Er ist Teil eines Systems, das Menschen verfolgt und ermordet. Peseschkian hatte vor seiner Wahl versichert, er werde nichts gegen den Willen des «Führers» tun. Zwar hat er im Wahlkampf die restriktive Kopftuchpolitik kritisiert, doch sein politischer Spielraum ist gering. «Peseschkian kann die Kopftuchfrage so lange kritisieren, wie er will: Er kann daran nichts ändern», sagt die Iranexpertin Katajun Amirpur von der Universität Köln. «Wenn die anderen Organe nicht mitspielen – was wahrscheinlich ist –, wird sich nichts tun.» Das habe schon sein Vorvorvorgänger Mohammad Chātami zu spüren bekommen. «Dieser sagte einmal, die Radikalen hätten alle zehn Tage eine Regierungskrise für ihn produziert», so Amirpur. «Der Präsident hat wenig Macht; hinzu kommt, dass fraglich ist, ob Peseschkian überhaupt viel ändern will.»
Tatsächlich hat das letzte Wort in allen politischen und religiösen Fragen immer der ultrakonservative Kleriker Ali Chamenei. Dessen antiisraelischen Kurs behält der neue Präsident Peseschkian selbstverständlich bei. Nach seiner Wahl sicherte er der libanesischen Hisbollah-Miliz weiterhin Unterstützung gegen das «zionistische Regime» zu.
Schon im April führte der Iran einen umfangreichen Raketen- und Drohnenangriff auf Ziele in Israel durch. Ansonsten griff das Regime vor allem indirekt ein, indem es finanzielle und politische Unterstützung für die Hisbollah und die Hamas leistete. Seit dem Anschlag auf Hanija besteht die Gefahr, dass der Iran zu einer direkten Kriegspartei gegen Israel wird. Die Folgen eines nun drohenden Vergeltungsschlags sind nicht vorhersehbar und würden weit über die Region hinausreichen.
Der Iran führt eine antiisraelische, antiamerikanische «Achse des Widerstands» an, zu der militante islamistische Gruppen im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen gehören und die immer offener von China und Russland unterstützt wird. Sie würde dem Verbündeten wohl militärisch beistehen. Andererseits weiss der Iran: Auch die USA werden ihren Verbündeten Israel weiter unterstützen.
Die ungelöste Atomfrage
Peseschkian hat während des kurzen Wahlkampfs betont, dass er eine Wiederbelebung des Atomabkommens mit den USA wünscht. In diesem verpflichtete sich der Iran 2015, nuklear nicht aufzurüsten und sein ziviles Atomprogramm überwachen zu lassen. Im Gegenzug verzichteten die westlichen Vertragspartner auf Sanktionen. 2018 kündigte US-Präsident Donald Trump das Abkommen und setzte die Sanktionen wieder in Kraft. Peseschkian kündigte an, er wolle direkt über eine Aufhebung der Sanktionen verhandeln, die der schon zuvor schwer angeschlagenen iranischen Wirtschaft weiter zugesetzt haben. Auch aus diesem Grund hat er nun Dschawad Sarif zu seinem Stellvertreter ernannt. Der frühere Aussenminister hatte an den Gesprächen zum Atomdeal mitgewirkt.
Ob es tatsächlich neue Verhandlungen mit den USA über das Abkommen geben wird, hängt nun von der iranischen Reaktion auf die Ermordung Hanijas ab. Und vom Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA. Joe Biden hatte sein Amt 2021 mit dem Versprechen angetreten, das Atomabkommen wiederherzustellen, und liess die Gespräche zuerst wiederaufnehmen. Nachdem der Iran Forderungen gestellt hatte, die Biden nicht erfüllen wollte – unter anderem verlangte das islamische Regime, dass kein künftiger US-Präsident das Atomabkommen wieder kündigen könne –, erklärte er die Verhandlungen im November 2022 für gescheitert. Inzwischen scheint der Iran näher denn je daran zu stehen, eine Atombombe bauen zu können. Ende Juli behauptete US-Aussenminister Antony Blinken, das Land sei «wahrscheinlich nur noch eine oder zwei Wochen davon entfernt», spaltbares Material herzustellen.
Kamala Harris geriete bei einem Wahlsieg in eine Zwickmühle. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin verurteilte Trumps Ausstieg aus dem Atomabkommen ebenso wie die Ermordung des Revolutionsgardengenerals Kassem Soleimani durch eine US-Drohne im Sommer 2020. Harris hat sich auch mehrfach mit der iranischen Frauenbewegung solidarisiert. Ob sie den Spagat zwischen dem Beharren auf Menschenrechtsfragen und erneuter Diplomatie in der Atomfrage schaffen könnte, bleibt eine offene Frage. Iranexpertin Amirpur sagt: «Trump hat das Abkommen seinerzeit als ‹shitty deal› bezeichnet. Seine Meinung dürfte sich nicht geändert haben. Und Kamala Harris wird wissen, dass sie – so wie der Iran in den letzten Monaten agiert hat – mit der gegenteiligen Position keine Wahl wird gewinnen können.»